Grenzmauern können die Ursachen von Migration nicht lösen. Wer sich allein auf sie verlässt, riskiert eine Eskalation der Gewalt. Wie Donald Trump.
Es ist der 17. August 1962. Peter Fechter schreit so laut um Hilfe, dass sich auf beiden Seiten der Berliner Mauer schnell eine Menschenmenge bildet. Der 18-Jährige Ostdeutsche wollte mit seinem Freund und Arbeitskollegen Helmut Kulbeik über die Berliner Mauer in Richtung Bundesrepublik fliehen. Kulbeik hatte es geschaffte, doch Fechter war auf der Mauer ohne Vorwarnung von mehreren Schüssen getroffen worden und zurück auf das ostdeutsche Gebiet gefallen. Dort liegt er jetzt, bewegungsunfähig. Vor den Augen der Öffentlichkeit verblutet er langsam und qualvoll.
Der Tod Fechters schockierte. Dennoch war er die logische Konsequenz einer DDR-Politik, die Grenzübertritte durch eine Mauer beenden wollte, ohne die Fluchtursachen zu beseitigen. Ist die Welt nicht vorsichtig, könnte Mauern zu Migrationsbekämpfung, wie der an der Grenze der USA zu Mexiko, ähnliche Opfer fordern.
Das Grundproblem mit Grenzmauern
Grenzmauern sind so gefährlich, weil sie überschätzt werden. Mauern schützen uns im Alltag vor wilden Tieren, ungewünschten Blicken und Einbrechern. Also glauben wir intuitiv, staatliche Schwierigkeiten wie illegale Migranten und Drogenschmuggel, auch schnell und einfach mit einer Mauer lösen zu können. Das klappt aber nicht. Im Gegenteil. Staatliche Mauern, besonders die gegen Migration, sind grundsätzlich verschieden von Mauern im Alltag.
Das liegt an den unterschiedlichen Ursachen der Phänomene. Einbrecher müssen nicht unbedingt dieses eine Haus ausrauben und Gaffer nicht unbedingt in diesen einen Vorgarten starren. Es gibt andere Häuser und Vorgärten sowie bessere Möglichkeiten, sein Geld zu verdienen oder seine Freizeit zu verbringen.
Bei Migranten ist das anders. Wer unbedingt von der DDR ins kapitalistische Ausland wollte, musste über die Grenze zur BRD. Weil ein Teil dieser Migranten in der DDR vor den Nichts stand, hielt sie auch die im Laufe der Zeit immer stärkere Befestigung der Grenze nicht vom Fluchtversuch ab. Die DDR-Führung wollte die Menschen aber weder gehen lassen, noch die Reformen umsetzen, die sie zum Bleiben bewogen hätten. Also konterte sie mit stärkeren Befestigungen und dem Schießbefehl.
Warum Grenzmauern nicht funktionieren
Grenzmauern funktionieren nicht, weil sie eine Dynamik eindämmen sollen, die uneindämmbar ist. Am besten erklärt das ein Beispiel aus der Spieltheorie. Dieses geht von folgenden Annahmen aus:
- Eine Stadt besteht aus zwei Stadtteilen mit Platz für jeweils 50.000 Menschen. In jedem Stadtteil leben genau 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen.
- Alle Einwohner sind zu 100 Prozent glücklich, wenn die Bevölkerung in ihrem Stadtteil jeweils zur Hälfte aus Männern und zur Hälfte aus Frauen besteht.
- Kein Mann will der einzige Mann in einem Stadtteil voller Frauen sein, und keine Frau will alleine unter Männer leben. Dann wären sie jeweils zu 0 Prozent glücklich.
- Leben Männer in einem Stadtteil voller Männer, wären sie immerhin zu 50 Prozent glücklich. Gleiches gilt für Frauen in einem Stadtteil voller Frauen.
Derzeit sind die Einwohner der Stadt also völlig zufrieden. In beiden Vierteln besteht die ideale 50/50-Verteilung von Männern und Frauen. Um das perfekte Glück zu wahren, müssten sie also nur den Status Quo beibehalten. Klingt einfach – ist es aber nicht.
Stellt man das Glück der Menschen (vertikale Achse) in Abhängigkeit von der Verteilung im Viertel (horizontale Achse) in einem Schema dar, wird klar, warum:
Das Diagramm zeigt, was außerhalb der Extremwerte passiert. Beispielsweise wären Menschen in einem Viertel, dass zu 75 Prozent aus Menschen des gleichen Geschlechts besteht, glücklicher als in einem Viertel, dass nur zu 25 Prozent aus Menschen des gleichen Geschlechts besteht.
Das ist ein Problem. Auch in unserer perfekten Ausgangslage, würde früher oder später etwas passieren, dass die ideale 50/50-Verteilung zerstört. Jemand könnte in einem der Stadtteile sterben oder ein Baby könnte geboren werden. Zufällige Ereignisse wie diese bringen den Stadtteil aus dem perfekten Gleichgewicht. Nehmen wir als Beispiel an, in Stadtteil A sind jetzt Männer in der Mehrheit. Wenn in diesem Stadtteil eine Frau die Wohnung wechseln muss, hat sie zwei Möglichkeiten:
- Sie bleibt in Stadtteil A. Dann wäre sie nicht mehr perfekt glücklich, weil sie in der Minderheit ist.
- Sie zieht in Stadtteil B. Dann zerstört sie zwar auch da das perfekte Gleichgewicht, ist aber in der Mehrheit statt in der Minderheit und deswegen glücklicher als in Stadtteil A.
Die Frau zieht also in den Stadtteil B. Ab diesem Zeitpunkt sind in Stadtteil A die Männer in der Mehrheit und in Stadtteil B die Frauen. Jeder Mann, der von nun an umzieht, ist glücklicher, wenn er in den Stadtteil A zieht. Jeder Frau ist glücklicher, wenn sie in den Stadtteil B zieht. Je mehr Menschen umziehen, umso größer wird der Unterschied zwischen beiden Stadtteilen, und umso schneller läuft die Entwicklung ab.
Am Ende dieser Entwicklung stehen perfekt nach Männern und Frauen geteilte Stadtteile. Das will zwar niemand, weil es die Menschen nur zu 50 Prozent glücklich macht. Das ist aber mehr als die 0 Prozent Glück, die die Einwohner der Stadt vermeiden wollen, wenn sie in der totalen Minderheit sind.
Das Beispiel zeigt: Völlig rationale Entscheidungen können zu Ergebnissen führen, die niemand will. Wenn in den USA in einigen Stadtteilen nur Menschen mit weißer Hautfarbe und in anderen nur Menschen mit schwarzer Hautfarbe wohnen, zeugt das also nicht zwangsläufig von Rassismus. Nach Ethnizitäten getrennte Stadtviertel sind das Ergebnis der gleichen Dynamik wie in unserem Beispiel.
Diese Dynamik beeinflusst auch Mauern zur Migrationsbekämpfung. Auch diese besitzen eine innere Dynamik, die zu Ergebnissen führt, die niemand will. Allerdings sind die Ergebnisse deutlich dramatischer als im Falle von nach Hautfarben getrennten Stadtvierteln.
Was passiert an einer Grenzmauer?
Grenzmauern sind immer Notlösungen. Den Führern der DDR wäre es am liebsten gewesen, ihre Bürger hätten einfach nicht auswandern wollen. Doch bevor sie die Menschen gehen ließen, bauten sie lieber eine Mauer. Donald Trump wäre es am liebsten, es gäbe einfach niemanden, der illegal in die USA einreisen will. Doch bevor er illegale Immigranten zulässt, baut er lieber eine Mauer. Die Vorlieben Donald Trumps sind also sehr ähnlich zu denen der Menschen im Beispiel mit den zwei Stadtteilen:
- Gibt es keine illegale Migration, ist Donald Trump zu 100 Prozent glücklich.
- Lässt Donald Trump die illegalen Migranten ins Land, ist er zu 0 Prozent glücklich.
- Hält Donald Trump die illegalen Migranten mit Mitteln wie einer Mauer ab, ist er zu 50 Prozent glücklich.
Das Problem dieser Denkweise offenbarte sich Ende November 2018. Eine Kolonne Migranten war an die Grenze zwischen den USA und Mexiko gepilgert und versuchte, über die Mauer in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Die US-Grenztruppen setzten Tränengas ein, um die Migranten fern zu halten.
Der Tränengas-Einsatz schockierte viele. Dennoch ist er die logische Konsequenz der Denkweise Donald Trumps und seiner Gleichgesinnten. Wieder wäre es ihnen am liebsten, die Migranten wären einfach umgekehrt. Doch wenn sie das nicht tun, setzen sie lieber härtere Mittel ein als die Migranten ins Land zu lassen.
Flüchtlinge kommen dennoch weiterhin. Ähnlich wie in der DDR Selbstschussanlagen, Mienen und der Schießbefehl einige Flüchtlinge nicht abhalten konnten, werden auch an der Grenzmauer der USA zu Mexiko immer wieder Migranten versuchen, ins Land zu gelangen. Das liegt daran, dass Migration von auch ihr Glück denen der Menschen im Beispiel mit den zwei Stadtteilen ähnelt:
- Die Migranten wären zu 100 Prozent glücklich, wenn sie in ihrem Heimatland gut leben könnten.
- Für manche geht das aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht. Würden sie dennoch in ihrer Heimat bleiben und Verfolgung oder den Tod riskieren, wären sie zu 0 Prozent glücklich.
- Versuchen sie, den Bedrohungen zu entkommen, sind sie zu 50 Prozent glücklich. Die Risiken, die sie dabei in Kauf nehmen – Tod, Verfolgung, Verletzung – sind auch nicht größer als die, die sie in ihrer Heimat erwartet.
Warum der Konflikt an einer Grenzmauer zu eskalieren droht
An einer Grenzmauer prallen zwei gegensätzliche Dynamiken aufeinander. Migranten, die nichts zu verlieren haben, treffen auf Politiker, die die Grenze unbedingt halten wollen. Dieser Konflikt kann eskalieren.
Der Einsatz von Tränengas an der US-Grenze war dafür nur das erste Beispiel. Dieses Mal wirkte das Gas noch. Früher oder später wird ein Schleuser Migranten mit Gasmasken ausstatten. Dann muss sich Donald Trump wieder entscheiden: Entweder er lässt die Migranten ins Land, die er als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ bezeichnet, oder er lässt mehr Gewalt anwenden, um sie fernzuhalten. Die zweite Option macht ihn zwar nicht zu 100 Prozent glücklich, ist ihm aber lieber als die Alternative, die er als Gefahr für die Sicherheit der USA darstellt – und die auch seine politische Karriere beenden könnte.
Bei Twitter machte Trump bereits deutlich, dass ihm die Grenzsicherung wichtiger als Gesetze ist. Trump schreibt: „Richter dürfen die Sicherheit an der Grenze nicht mit Gesetzen einschränken. Davon verstehen sie nichts und sie machen unser Land unsicher. Unsere großartigen Gesetzeshüter müssen ihren Job machen dürfen.“
Wer so denkt, läuft Gefahr, am Ende auf Menschen zu schießen. Wenn alle Gegenmaßnahmen die Immigranten nicht abhalten, droht, wie in der DDR, der Schießbefehl als verzweifelte letzte Maßnahme.
Ob es so weit kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Die Entwicklung kann vermieden werden, wenn die Politiker die Ursachen der Migration lösen. In der DDR wären dazu innere Reformen nötig gewesen. Die Vereinigten Staaten müssten ihren Teil dazu beitragen, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern. Gleiches gilt für die Europäische Union, will sie die Flüchtlingszahlen senken.
In beiden Fällen dürfte dieser komplizierte Prozess Jahrzehnte dauern. Der Erfolg hängt größtenteils von den Ländern selbst ab. In der Zwischenzeit wird die Forderung nach Grenzmauern weiter bestehen. Die schlimmen Folgen, zu denen Anti-Migrations-Mauern führen können, können in dieser Zeit nur vermieden werden, wenn sich die Gesellschaft der Gefahr bewusst ist. Vielleicht hilft dieses Bewusstsein auch, andere Folgen des Wir-gegen-die-Denkens zu überwinden – Strafzölle, zum Beispiel.
Fazit
- Gut gemeinte, rationale Entscheidungen können zu Ergebnissen führen, die niemand will. Gute Politik bedenkt diese Dynamiken und hilft, ihre schlimmsten Konsequenzen zu vermeiden.
- An Anti-Migrations-Mauern kollidieren zwei dieser Dynamiken. Migranten, die nichts zu verlieren haben, treffen auf Politiker, die eine Grenze unbedingt schützen wollen.
- Dieser Konflikt droht zu eskalieren. Kommen immer mehr Migranten, die Grenzschützer geben aber nicht nach, müssen sie irgendwann schießen. Dieses Ergebnis zu vermeiden ist die Aufgabe guter Politik.