Einige Cola-Dosen und hunderte kranke belgische Kinder erklären, wie ein besseres Menschenbild politische Probleme löst: Es lässt uns Populisten erkennen.
Die Geschichte beginnt mit neun Schülern einer belgischen Kleinstadt-Schule. Nach einer Mittagspause im Sommer 1999 klagen sie über Übelkeit, Herzrasen, Kopfschmerzen. Mangels einer besseren Erklärung, vermuten die Lehrer die Schuld bei den Softdrinks, die alle Neun getrunken hatten.
Die Panik beginnt. Medien berichten über den Coca-Cola-Vorfall. Hunderte Kinder melden Symptome. Fast 50 kommen ins Krankenhaus. Coca-Cola vernichtet Millionen Getränke.
Dann implodiert der Skandal: Experten untersuchen die Cola-Dosen, Ärzte die Schüler. Keiner findet Probleme. Giftstofffreie Softdrinks, kerngesunde Kinder. Niemand weiß, ob die ursprünglichen neun Erkrankten schlechte Cola tranken. Fest steht: Die übrigen hunderte Schüler fühlten sich krank. Aber sie waren es nicht.
Der Coca-Cola-Vorfall verdeutlicht, wie wir denken: Weil wir in der Welt sehen, woran wir glauben, heilen uns wirkungslose Placebo-Arzneien, während uns giftstofffreie Getränke in Krankenhäuser bringen – der sogenannte Nocebo-Effekt.
„Der Nocebo-Effekt zeigt, warum Ideen nie nur Ideen sind“, schreibt Rutger Bregman in seinem Buch Human Kind: A Hopeful History, aus dem auch das Coca-Cola-Beispiel stammt. „Wir sind, woran wir glauben. Wir finden, wonach wir suchen. Was wir vorhersagen, geschieht.“
Auch in der Politik.
Gute Menschen, böse Menschen und eine Erkenntnis
Bregman bekämpft mit seinem Buch den mächtigsten Nocebo-Effekt unserer Zeit: Den Glauben, die Menschheit sei selbstsüchtig und aggressiv und nur einen Hauch vom Kampf jeder gegen jeden entfernt. Die radikale Wahrheit laute: „Tief in ihrem Inneren sind die meisten Menschen ganz okay.“
Unglücke zeigen unsere wahre Natur. Während in Filmen nach Flugzeugabstürzen und Naturkatastrophen Selbstsucht regiert, herrschten beim Untergang der Titanic, nach den Terrorangriffen vom 11. September und Hurrikan Katrina in New Orleans Ruhe und Hilfsbereitschaft. „Katastrophen fördern das Beste in Menschen zutage“, schreibt Bregman. „Ich kenne keinen anderen so gut belegten soziologischen Fakt.“
Wir sind nicht ausschließlich gut. Aber wir bevorzugen Güte selbst unter schwierigsten Umständen.
Diese Güte verschwindet vor allem, wenn Menschen die Welt anders sehen. Wir vertrauen auf das Gute in Familienmitgliedern, Nachbarn und Kollegen. Von Gesellschaften und der Menschheit als Ganzes erwarten wir aber Schlechtes.
Dieser Glaube wirkt wie ein Nocebo.
Meinen wir, die Zivilisation hänge am seidenen Faden, glauben wir eher Behauptungen, jeder Migrant mehr oder jede Vermögensungleichheit durchschneide diesen Faden. Wir glauben eher Populisten, die uns vor diesen Bedrohungen zu beschützen vorgeben, und wir unterstützen eher die drastischen Maßnahmen, die sie dafür fordern. Sehen wir die Welt als schlechten Ort, machen wir sie dazu.
Gefährliche Wissbegier und gefährliche Ignoranz
Bregman bekämpft den Böse-Menschen-Nocebo, indem er seinen Lesern von einer aus seiner Sicht gefährlichen Droge abrät: The News.
Mit The News meint Bregman nicht wichtige, einordnende Nachrichten über Politik und Wirtschaft. Er meint sensationalisierte Berichte über Verbrechen und andere Alltäglichkeiten, die uns den Blick verstellen auf die wichtigste Einordnung von allen: Die Welt wird immer besser. Soziale Medien füttern diese Verzerrungen ihren Lesern so effektiv wie kein Medium vor ihnen.
Weil The News vor allem Außergewöhnliches und damit Schlechtes berichten, halte, wer ihnen folgt, andere Menschen eher für böse und die Welt eher für einen gefährlichen, kaum zu verbessernden Ort.
Neu ist die Idee, The News auszublenden, nicht. Viele Autoren fordern Ähnliches. Gescheitert sind alle an den gleichen Problemen:
- Niemand kann schlechte Informationen ausblenden: Von The News bis Populisten-Flugblätter in Briefkästen und russischer Propaganda in Sozialen Medien: Jeden Tag brechen ungefragt aufpeitschende Infos über uns herein. Wer ihnen ausweichen will, muss in eine einsame Berghütte ziehen. Der Rest von uns, muss lernen, mit ihnen umzugehen.
- Wir müssen nicht alle News ausblenden: Verlässliche Nachrichtenquellen stellen die Welt dar, wie sie ist. Sie kontern die Böse-Menschen-Erzählung, statt sie zu befeuern.
Den Böse-Menschen-Nocebo überwinden wir nicht mittels Ausblend-Aufforderungen. Wir überwinden ihn, indem wir verlässliche Informationen von unzuverlässigen trennen. Weil unzuverlässige Quellen – Revolverblätter und Populisten – mit den gleichen Techniken Panik schüren, überwinden wir den Böse-Menschen-Nocebo, indem wir Populismus erkennen.
Die wichtigste Fähigkeit unserer Zeit
Sinnvoller, als Populismus erkennen lernen, können wir unsere Zeit kaum einsetzen.
Viele Fähigkeiten helfen uns, mit einem Teil der Welt besser umzugehen. Wer rechnen lernt, versteht Preise im Supermarkt besser. Wer lesen und schreiben lernt, kommuniziert besser.
Unsere Fähigkeit, hilfreiche politische Ergebnisse zu schaffen, steht über allem. Egal wie gut wir Preise im Supermarkt verstehen, bei schlechter Politik bleiben die Regale leer. Egal wie gut wir lesen und schreiben, schlechte Politik verbietet freie Kommunikation. Politik entscheidet alles. Schlechte Politik verurteilt alle unsere Fähigkeiten zur Nutzlosigkeit.
Populismus entscheidet, ob wir zerstörerische oder hilfreiche Politik schaffen. Je stärker Populismus öffentliche Debatten bestimmt und je mehr Populisten wir in Parlamente wählen, umso mehr beschäftigten wir uns mit als große Kreuzzüge getarnten Werbekampagnen statt mit Lösungen tatsächlicher Probleme.
Unsere Fähigkeit, Populismus zu erkennen, entscheidet, ob wir gemeinsam als Freunde leben oder gemeinsam als Idioten untergehen. Lassen Sie uns als Freunde leben. Der Glaube, andere Menschen könnten überhaupt Freunde sein, ist ein guter Anfang.
Wie Populismus uns schadet und wie wir ihn überwinden, erfahren Sie in meinem Buch „Es gewinnen alle oder keiner“.