Hier meine Prognose vom Morgen des Samstags, 25. September 2021, zum Ausgang der Bundestagwahl am Sonntag, 26. September 2021, und der folgenden Regierungsbildung.
Kurzfassung
- Ich erwarte, dass sich die Stimmen noch auf Union und SPD konzentrieren, weil Wähler der konservativen bzw. linken Partei zum Sieg verhelfen wollen.
- CDU/CSU haben das größere Potenzial, Stimmen zu gewinnen. Die Wahl wird knapper, als viele denken, aber die SPD sollte mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent die meisten Stimmen gewinnen.
- Nach der Wahl werden vier Koalitionen möglich sein: Große Koalition, SPD/Grüne/FDP, SPD/Grüne/Linke und CDU/CSU/Grüne/FDP. Welche kommt, ist unmöglich mit Genauigkeit vorhersagbar. Doch es gibt interessante Tendenzen:
- Die Chancen auf eine CDU-geführte Regierung mit Grünen und FDP liegen mit 40 Prozent überraschend hoch.
- Am wahrscheinlichsten scheint aber eine SPD geführte Koalition (mit 60 Prozent). Die Sozialdemokraten profitieren von ihren zahlreicheren Optionen: Sie regieren zu 34 Prozent mit SPD und Grünen und zu 26 Prozent mit der Linken. Diese Verteilung liegt am noch leicht unsicheren Einzug der Linken ins Parlament: Schaffen sie es nicht, kann die SPD nicht mit der Linken regieren. Schaffen sie es aber, sind beide Koalition gleich wahrscheinlich.
- Eine erneute Große Koalition scheint fast ausgeschlossen.
- Die Regierungsbildung dürfte länger als drei Monate dauern, aber weniger als sechs Monate wie bei der Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2017 (90 Prozent Wahrscheinlichkeit). Die Regierungsbildung dürfte aber keine Neuwahlen erfordern (Chance auf Neuwahlen: 10 Prozent).
Hier Begründung und Berechnung:
Welche Partei erhält die meisten Stimmen?
Prognose vom Samstag. 25. September:
- SPD: 25 Prozent
- CDU/CSU: 22 Prozent
- Grüne: 17 Prozent
- FDP: 12 Prozent
- AfD: 10 Prozent
- Linke: 6 Prozent
- Sonstige: 8 Prozent
Laut der Umfrage liegt die SPD drei Prozent vorn. Das ist einiges, aber nicht unendlich deutlich. Beginnen wir die Berechnung daher mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent, dass die SPD am Wahlabend die meisten Stimmen erhält.
Anpassen müssen wir diesen Wert, weil die Umfragen zuletzt knapper wurden. Die Union hat aufgeholt. Das senkt die Wahrscheinlichkeit, dass die SPD gewinnt leicht. → SPD: -10 Prozent
Weitere Anpassungen:
- Die Frustration über Armin Laschet hat die Umfragen bestimmt. Ärger über einen Kandidaten wird kurz vor der Wahl aber oft von Parteitreue und inhaltlichen Gründen überstimmt: Wer sein Leben lang CDU/CSU gewählt hat, überlegt sich auf dem Gang in die Wahlkabine zweimal, ob wirklich für die SPD stimmen will. Mit wie vielen kurz entschlossenen Umschwenkern können CDU/CSU rechnen? Dafür müssen wir bedenken:
- Die CDU hat ihr Wählerpotenzial nicht voll abgerufen, viele Anhänger unterstützen derzeit taktisch die FDP (FDP bei 12 Prozent), wollen nicht wählen oder sind zu SPD/Grünen umgeschwenkt. Es besteht also ein Potenzial von Wählern, die die CDU gerne wählen würden, es nach Umfragen aber nicht tun. Ich schätze es auf rund 10 Prozent der Wählerstimmen.
- Davon schwenken einige noch um – motiviert durch knappe Umfragen oder die Angst gegen die eigene Gewohnheit zu stimmen. Ich schätze ein Viertel bis die Hälfte.
- Das Umschwung-Potenzial der CDU beträgt also rund 2 bis 5 Prozent. Normalerweise würde ich für die Berechnung einen Wert nahe der Mitte verwenden. Da viele Stimmen schon per Briefwahl abgegeben wurden, setze ich etwas darunter an: CDU/CSU werden am Wahlsonntag 3 Prozent mehr Stimmen holen als vorhergesagt.
- Das Umschwung Potenzial der SPD ist durch ihren langen Aufstieg stärker ausgeschöpft als bei CDU/CSU. Teile von Grünen- und Linken-Wählern könnten aber aus strategischen Gründen noch zu den Sozialdemokraten umspringen, um sie vor der Union zu halten.
- Anteil der Grünen-Wähler, der womöglich umspringt: Höchstens jeder Zwanzigste. Grüne-Wähler wollen Klimakompetenz und diese trauen sie der SPD weniger zu. Eine Stimme für die SPD empfänden sie als „Weiter so“. Das wollen sie nicht.
- Anteil der Linke-Wähler, der womöglich umspringt: Höchsten jeder Zwanzigster. Viele, die sich das vorstellen konnten, sind schon zur SPD gewechselt, weil sie dieser Siegchancen zuschreiben. Populisten und Protestwähler sind zur AfD übergelaufen. Die verbleibenden Wähler wählen stärker Links als die SPD. Eine Stimme für die SPD empfänden sie als „Weiter so“. Das wollen sie nicht. Außerdem kämpft die Linke um den Einzug ins Parlament (Fünf-Prozent-Hürde). Den wollen ihre Anhänger nicht gefährden.
- Umschwung-Potenzial der SPD: 0-2 Prozent. Für die Kalkulation nehmen wir den Mittelwert: 1 Prozent.
CDU/CSU haben im Vergleich zur SPD also das größere Potenzial, noch Stimmen zu gewinnen. Hinzu kommt, dass ihre Wähler mehr Anreize haben, dieses Potenzial auszunutzen: Sie könnten den Wahlsieger verändern, von SPD zu CDU/CSU. Wähler von Grünen und Linken glauben eher, mit einem Wechsel zur SPD die Zusammensetzung der Koalition zu ihren Ungunsten zu verändern.
Die finale Prognose für die Stimmverteilung am Wahlsonntag lautet also:
- Prognose Stimmveränderung CDU/CSU bei Wahl gegenüber Umfrage: +3 Prozent. Neuer Wert: 25 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung SPD: +1 Prozent. Neuer Wert: 26 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung Grüne: -1 Prozent. Neuer Wert: 16 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung FDP: -1 Prozent. Neuer Wert: 11 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung AfD: -1 Prozent. Neuer Wert: 10 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung Linke: 0 Prozent. 6 Prozent.
- Prognose Stimmveränderung Sonstige: -1 Prozent. 7 Prozent.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent holt die SPD die meisten Stimmen bei der Bundestagswahl 2021. Das ist deutlich unsicherer, als viele annehmen.
Welche Koalition regiert?
Welche Koalitionen sind mit dieser Prognose möglich? Hier bedenken wir auch die Auswirkungen kleinerer Abweichungen von der Vorhersage:
- SPD/Grüne/FDP: mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit möglich.
- CDU/CSU/Grüne/SPD: 99 Prozent Wahrscheinlichkeit
- SPD/Grüne/Linke: 75 Prozent Wahrscheinlichkeit: Hängt vom Einzug der Linken im Parlament ab. Der scheint aber wahrscheinlicher als dass SPD und AfD genügend Linken-Wähler abwerben, um die Partei unter 5 Prozent zu drücken.
- Große Koalition: 75 Prozent Wahrscheinlichkeit.
Alle drei Dreier-Koalition (CDU/CSU zur Union zusammengefasst) werden sehr wahrscheinlich möglich sein. Welche die meisten Sitze besitzt, wird damit unwichtig. Entscheidender werden inhaltliche Schnittmengen und taktische Überlegungen.
Daraus können wir folgende Ausgangswerte für die Vorhersage ableiten: je 30 Prozent Wahrscheinlichkeit für SPD/Grüne/FDP und CDU/Grüne/FDP, je 20 Prozent für SPD/Grüne/Linke und Große Koalition. Davon ausgehend müssen wir nun die taktischen und inhaltlichen Überlegungen der Parteien einbeziehen.
Taktische Überlegungen der SPD:
- Eine Fortsetzung der großen Koalition würden viele SPD-Wähler wohl als Enttäuschung empfinden. Sie wollen linke Politik. Das hat die Vorstandswahl gezeigt, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken müssen nun liefern. → -6 Prozent für Groko, je +2 Prozent für alle anderen Optionen.
- Koalition mit FDP für Kevin Kühnert und viele Partei-Linke im Aufwind sicher schwer vorstellbar: Sie wollen viel umsetzen, das mit der FDP schwierig wird. → -2 Prozent für SPD/Grüne/FDP, +2 Prozent für SPD/Grüne/Linke.
- Eine Koalition mit der Linkspartei könnten der SPD einige Wähler übel nehmen. Die Frage ist: Sind das auch SPD-Wähler? Oder wählen Linken-Ablehner eher anderen Parteien? Wahrscheinlich ist die FDP für die meisten SPD-Wähler ein größeres Feindbild als die Linke. Koalitionsentscheidend dürfte dieser Punkt nicht werden. → Keine Veränderung.
- In einer Koalition mit der Linken besteht für die SPD die Gefahr, von der Linken links überholt zu werden. Diese könnte kaum umsetzbare Forderungen hervorholen, die die SPD ablehnen muss. Von ihren Anhängern könnten die Sozialdemokraten dann in der Rolle von CDU/CSU in der großen Koalition gesehen werden: Als Bremser, der linke Forderungen klein hält. Das muss die Partei vermeiden. → SPD/Grüne/Linke: -2 Prozent, SPD/Grüne/FDP: +2 Prozent
- In einer Koalition mit Grünen und FDP würde die Linke zwar weiter die SPD links überholen können. Diese könnte aber die Hauptschuld für Entscheidungen Richtung Mitte glaubwürdig ihren Koalitionspartner zuschieben. In den Augen ihrer Wähler würde das die Motivation, SPD zu wählen eher steigern als schmälern. -> SPD/Grüne/FDP: +/- 0 Prozent.
Taktische Überlegungen von CDU/CSU:
- Holt die SPD die meisten Sitze, wäre die Rolle als Juniorpartner in großer Koalition für viele CDU/CSU-Parteigrößen schwer zu schlucken. Landespolitiker würden in Erklärungsnot gelangen, vor allem Söder. → Große Koalition: -6 Prozent, alle anderen +2 Prozent.
- Holen CDU/CSU die meisten Stimmen, dürfte sie die große Koalition grundsätzlich nicht ablehnen: Sie hat ihr bislang kaum geschadet. Dieses Szenario ist unwahrscheinlicher, also geht es entsprechend geringer in die Gesamtwahrscheinlichkeit ein. → Große Koalition +6 Prozent, alle anderen -2 Prozent.
- Eine CDU/CSU geführte Koalition mit FDP und dem Feindbild Grüne scheint gedanklich zunächst eine Herausforderung. Diese Koalition könnte der Union aber helfen, ihr grünes Profil zu schärfen und so wohlhabende Wähler, die sie an die Grünen verloren haben, zurückzugewinnen: Sie würde zeigen, dass grüne Politik auch mit der Union machbar ist. → CDU/CSU/Grüne/FDP: +/- 0 Prozent
- In einer CDU/CSU geführten Regierung hätte der unbeliebte Armin Laschet zunächst ersten Anspruch aufs Kanzleramt. Das würde sicher bei einigen Parteimitgliedern Sorgen- oder gar Zornfalten auslösen. Söder würde es wohl auch nicht gefallen. Dennoch: Vier Jahre bis zu nächsten Wahl sind viel Zeit, seine Kritiker zu überzeugen. Merz stünde wohl weiter hinter Laschet; hochrangige Parteimitglieder wissen, wie schnell sich die öffentliche Meinung ändert (Man denke an die schnell verstummten „Koan Neuer“-Sprechchöre im FC Bayern-Fanblock.) Bleibt Laschet unbeliebt, Kandidiert bei der nächsten Wahl eben Söder oder ein anderer neuer Kandidat. Union-Anhänger würden ihre Partei wohl wieder in die Arme schließen. Gründe, wegen Laschet auf die Regierung zu verzichten, gibt es also nicht. → CDU/CSU/SPD und CDU/CSU/Grüne/FDP: +/- 0 Prozent.
Taktische Überlegungen der Grünen:
- Die Grünen erwartet nach der Wahl ein schwierige Situation. Grüne Wähler hofften auf einen grünen Kanzler. Alles andere wird eine Enttäuschung. Die Frage ist: Welches ist die bessere Enttäuschung? Da die Grünen dafür warben, die aus ihrer Sicht klimafeindliche Politik der Großen Koalition zu beenden, dürften sie kaum für deren Fortsetzung verantwortlich sein wollen, indem sie sich einer Regierungsbeteiligung verweigern. Ihre Anhänger erwarten von ihnen auch mit unter 20 Prozent der Stimmen, etwas für das Klima zu tun. Ein Feindbild verbinden sie weder mit SPD noch CDU/CSU. Sie könnten sich beide Partner vorstellen. -> SPD/Grüne/FDP, SPD/Grüne/Linke und CDU/CSU/Grüne/FDP: je 5 Prozent. Große Koalition: -6 Prozent.
- Auch Wohlhabende Grünen-Wähler würden der Partei eine Koalition mit der Linken wohl kaum verübeln: Die Forderungen ähneln sich zu stark. Wer grün wählt weiß, dass z.B. Vermögen besteuert werden könnte. Einen Grund gegen Rot-Rot-Grün hat die Partei nicht. Weil die Linke wohl aber weniger Stimmen holt als die FDP, könnten die Grünen mit Rot-Rot-Grün wohl mehr ihrer Punkte durchsetzen und mehr Ministerposten holen. Das spricht für die Koalition mit der Linken. → SPD/Grüne/FDP: -2 Prozent. SPD/Grüne/Linke: +2 Prozent.
Taktische Überlegungen der FDP:
- Die inhaltlichen Schnittmengen der FDP mit CDU/CSU sind deutlich größer als mit der SPD. Das steigert die Chance auf eine Koalition mit der Union: CDU/CSU/Grüne/FDP: +1 Prozent, SPD/Grüne/FDP: -1 Prozent.
- Solange die FDP entscheidet, wem sie ins Kanzleramt hilft, würden ihre Anhänger eine Koalition mit CDU/CSU wohl deutlich positiver sehen als mit der SPD. → CDU/CSU/Grüne/FDP: +1 Prozent; SPD/Grüne/FDP: -1 Prozent.
- Hat die FDP keine Wahl, würden ihre Wähler ihr den Gang in eine SPD geführte Koalition aber wohl verzeihen, wenn sie dadurch eine Beteiligung der Linkspartei an der Regierung verhindern. Das dürfte ihre Kompromissbereitschaft erhöhen und die Wahrscheinlichkeit dieser Koalition stärken. → SPD/Grüne/Linke: -2 Prozent, SPD/Grüne/FDP: +2 Prozent.
- Lindner hat schon nach der letzten Wahl eine mögliche Regierungsbeteiligung abgelehnt. Einmal lassen ihm die Wähler das als Prinzipientreue durchgehen. Oft kann er es sich nicht leisten: Wähler wollen auch, dass ihre Partei ihre Ziele umsetzt. Dazu muss sie regieren. Die FDP dürfte für eine Regierungsbeteiligung also zu Kompromissen bereit sein. Das erhöht die Chance, dass sie an der Regierung beteiligt sein wird. -> SPD/Grüne/FDP und CDU/CSU/Grüne/FDP: + 5 Prozent; CDU/CSU/SPD und SPD/Grüne/Linke: je -2 Prozent.
Taktische Überlegungen der Linken:
- Die Linke will endlich im Bund regieren. Dass sie dafür zu Kompromissen bereit ist hat sie bewiesen, indem sie bereits wichtige Forderungen über Bord geworfen hat. → SPD/Grüne/Linke: + 1,5 Prozent, alle anderen Optionen: -0,5 Prozent.
Allgemeine taktische Überlegungen:
- Regierungsbildungen mit drei Partnern sind schwieriger als mit zwei: Groko +10 Prozent.
- Es bestehen wohl viele Möglichkeiten zur Regierungsbildung: Das erhöht die Zahl möglicher Kompromisse und hält die Chancen auf Neuwahlen gering. Die gibt es mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent nur, wenn Entscheider in mehreren Parteien Kompromisse ausschließen.
- Viele Optionen bedeutet viele Chancen, durch Gespräche mit einer Partei Druck auf andere aufzubauen. Gleichzeitig ist wohl keine Partei fix in der Regierung. Es gibt also viele Möglichkeiten, die durchdiskutiert werden. Das dürfte die Regierungsbildung verzögern: Voraussichtlich (90 Prozent) dauert es mehr als einen Monat, bis Koalition steht.
Fazit
Es dauert, aber es funktioniert. Am Ende steht wahrscheinlich eine Drei-Parteien-Regierung – wohl CDU/CSU/Grüne/FDP (38 Prozent). Auch SPD/Grüne/FDP und SPD/Grüne/Linke scheinen wahrscheinlich.