Eine Schülerin aus München ist vier Tage lang von sechs Asylbewerbern missbraucht worden – meldet die AfD. Der Fall zeigt, wie die Partei systematisch lügt.
Die Geschichte klingt grausam: Eine unschuldige Schülerin wird von sechs Männern in einer fremden Wohnung festgehalten und tagelang missbraucht. Die Männer sind Ausländer. Sie haben sich illegal ins Land geschlichen, dürften eigentlich gar nicht hier sein. Wie sie überzieht eine ganze Horde Verbrecher Deutschland. Die Konsequenz: Wegen der vielen Gewalttaten erkennt man unsere schöne Heimat kaum noch wieder. Geht es so weiter, wird alles noch viel schlimmer werden.
Wen diese Geschichte nicht beunruhigt, der hat kein Herz. Nur, wer sie glaubt, der hat kein Hirn. Denn die Geschichte ist fast vollkommen erfunden. Sie stammt von der Instagram-Seite der AfD, und zeigt, wie die Partei systematisch lügt.
Wie die AfD lügt, Schritt 1: Knüpfe an wahre Fakten an
Propagandisten erfinden nie alle Teile einer Geschichte. Das wäre zu auffällig. Propagandisten erzählen Fabeln und berufen sich auf die wenigen Fakten, die ihnen zugrunde liegen. Wer diese googlet, findet zwei, drei Überschriften, die sie scheinbar bestätigen. Dadurch sollen auch die frei erfunden Teile wahr wirken.
So macht es auch die AfD. Die Geschichte der angeblichen Horror-Vergewaltigung ist nicht frei erfunden – dennoch ist an ihr praktisch alles falsch. Wahr ist, dass eine Münchnerin bei der Polizei angegeben hatte, tagelang von sechs Ausländern missbraucht worden zu sein. Wahr ist auch, dass sie zur fraglichen Zeit in der Wohnung der Männer war und scheinbar mit jedem von ihnen Sex hatte.
Das Problem dabei: Mehrere Zeugen hatten die Frau während der fraglichen Zeit in der Stadt gesehen. Sie konnte sich frei bewegen und war freiwillig in die Wohnung der Männer zurückgekehrt. Derzeit geht die Polizei daher davon aus, dass sie ohne Zwang mit jedem der Männer einmal einzeln schlief. Vergewaltigung? Fehlanzeige. Horror und Schrecken? Ebenso.
Auch die Bezeichnung als „Schülerin“, wie sie die AfD nutzt, ist irreführend. Wer an Eltern denkt, die das Mädchen verzweifelt suchen, liegt falsch. Die 15-Jährige wohnt in einer Betreuungseinrichtung. Derzeit ist nicht bekannt, ob sie überhaupt noch zur Schule geht und ob sie als vermisst gemeldet worden war. Die Polizei geht davon aus, dass sie die angebliche Vergewaltigung frei erfunden oder sogar bewusst vorgetäuscht hatte.
Wie die AfD lügt, Schritt 2: Verzerre die Fakten, so gut es geht
Die AfD-Version der Geschichte ist fast völlig erfunden. Dass das kein Unfall, sondern Kalkül war, erkennt man an der Wortwahl der Partei. Sie übernimmt die Schilderungen der Jugendlichen nicht nur, sie schmückt sie so weit wie möglich aus. Die Rede ist von einem „Martyrium“ und „vier Tage lang nur Schmerzen, Tränen und Demütigungen“. Das stand in keinem Polizeibericht, das hat sich die Partei ausgedacht. Die AfD schreibt:
„Es war September, als die Schülerin zunächst in eine Wohnung in Pasing gelockt wurde. Dort forderte der 17-Jährige, den sie erst wenige Wochen kannte, Geschlechtsverkehr. Die Deutsche lehnt das vehement ab, durch Drohungen und Einschüchterungen kam es schließlich doch soweit. Schlimm genug, allerdings erst der Startpunkt eines Martyriums, das über vier Tage lang nur Schmerzen, Tränen und Demütigungen bereithielt. Die 15-Jährige wurde mehrfach von sechs Asylbewerbern missbraucht.
Die AfD-Version der Geschichte, die sie in der Beschreibung zum Bild verkauft. Daran ist praktisch nichts wahr. Vieles hat die AfD selbst dazu gedichtet. Der Partei ist also nicht nur egal, ob ihre Behauptungen wahr sind, sie lügt gezielt.
Als die Tat endlich überstanden war, vertraute sich das Mädchen seinem Umfeld an. Umgehend wurde die Polizei verständigt, die die Tatorte in Pasing und in einer Wohnung in Berg am Laim aufsuchte. Der 17-jährige Hauptverdächtige und vier weitere Männer im Alter von 20 bis 28 Jahren wurden in den darauffolgenden Wochen festgenommen. Nach einem Verdächtigen wird noch gefahndet.“
Doch die AfD dichtet nicht nur dazu. Sie lässt auch alles aus, was die Wirkung ihrer Geschichte schwächen könnte. Sie schreibt nicht: „Das Mädchen vertraute sich dem Personal in ihrer Betreuungseinrichtung an.“ Das würde die Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen und das Bild der unschuldigen Schülerin infrage stellen. Die AfD schreibt, das Mädchen habe sich ihrem Umfeld anvertraut. Der Leser soll an schluchzende Eltern und eine verzweifelte Oma denken. Auch wenn nichts davon wahr ist.
Die AfD stellt Ereignisse also absichtlich falsch dar. Dass sie das nicht nur macht, um ein paar Klicks bei Instagram abzustauben, sondern aus gezielter Propaganda, erkennt man an dem, was die Partei aus der Geschichte macht.
Wie die AfD lügt, Schritt 3: Appelliere an die Liebe
Geschichten wie die der unschuldigen, missbrauchten Schülerin erfüllen für die AfD einen wichtigen Zweck: sie appellieren an die Liebe der Wähler. Denn die treibt die Politik an. Klar, manche Politiker mögen machtgierig oder verrückt sein. Die überwältigende Mehrheit ihrer Anhänger folgt ihnen aber aus Gründen wie Liebe, Mitgefühl und Sympathie. Mit diesen Werten muss die AfD ihre Ziele verknüpfen, wenn sie politisch erfolgreich sein will.
Deswegen sagt die AfD nicht: „Diese bösen Ausländer.“ Sie knüpft an das Bild der trauernden Familie an und appelliert sie an das Mitleid des Lesers. Wer will schon, dass es anderen Familien genauso geht? Denen der Freunde, der Verwandten oder der eigenen? Wer ein Herz hat, will das verhindern. Die AfD positioniert sich als die einzige Partei, die das kann – die einzige Partei, die den Wähler vor dieser großen Bedrohung retten wird. Wer die eigene Familie und die seiner Mitmenschen liebt, muss AfD wählen – so die Botschaft.
In der Beschreibung neben dem Instagram-Bild schreibt die AfD deshalb:
Die rechtlich nicht legale Grenzöffnung 2015 und die seither hunderttausendfachen illegalen Grenzübertritte haben die Büchse der Pandora geöffnet. Die Leidtragenden sind Frauen und Kinder, ebenso Männer, die sich plötzlich einer Kultur gegenübersehen, die sich einfach nimmt, was sie will. Wohin soll das führen? Wie viele Opfer muss es noch geben? Wann übernimmt der Staat endlich Verantwortung und handelt?
Die Botschaft basiert auf erfundenen Geschichten. Wer diese aber glaubt, muss die AfD als letzte Hoffnung sehen, um unendliches Leid abwenden zu können. Deswegen wird er der Partei folgen – trotz aller Kritik und Skandale. Diese wird er als Verschwörung der Bedrohung abtun.
AfD Anhänger sind also weder irrational noch hasserfüllt. Wer die AfD verstehen will, muss verstehen, warum ihre Anhänger positive Werte mit ihr verbinden. Hass kann als zweiter Schritt entstehen, gegen die, die als Unterstützer der Bedrohung für Familie und Mitmenschen empfunden werden. Aber er muss es nicht, und er ist nie der Anfang.
Wenn AfD-Gegner die Anhänger der Partei bekämpfen, verstärken sie deren Überzeugung daher nur. Sie hätten bessere Erfolge, wenn sie ihnen liebevoll erklären, wie die Parteiführung die Anhänger belügt, um sie für ihre eigenen Zwecke einzusetzen.
Wie das genau funktioniert, werden wir uns in einem der nächsten Artikel ansehen. Dann geht es darum, warum die AfD-Geschichten die Menschen nicht nur aufwühlen – das können schließlich auch Filme und Bücher – sondern warum sie ihnen bei Wahlentscheidungen wichtiger werden können als alles andere – von Steuern bis Arbeitslosengeld.
Der Blick über den Tellerrand
Die AfD ist nicht die einzige Partei, die an die Liebe der Menschen appelliert. Das machen alle größeren Parteien. Sie müssen es tun, denn: Mit Ausnahme von Protestwählern, will jeder, der bei einer Wahl seine Stimme abgibt, „das Richtige“ tun und „die Guten“ wählen. Der Kompass, der uns zum Richtigen führen soll sind positive Werte wie Liebe und Mitgefühl.
Der Unterschied zwischen Wählern besteht also nicht in ihrer Motivation – jeder will das Gute. Er besteht darin, was wir mit dem Guten verbieten.
- Linken Wählern ist es am wichtigsten, Menschen zu helfen. Sie denken an Notleidende und wollen ihre Situation verbessern. Parteien appellieren an linke Wähler, indem sie zeigen, wie ihre Programme sozial schwachen Menschen helfen. Das machen am stärksten die SPD, Linke und Grüne.
- Konservativen Wählern ist es am wichtigsten, Strukturen zu erhalten. Sie denken an Kinder und wollen, dass diese ein genauso glückliches Leben haben wie sie selbst. Parteien appellieren an konservative Wähler, indem sie ihnen mit Slogans wie „keine Experimente“ das Gefühl geben, Bewährtes fortzuführen. Das machen vor allem CDU und CSU.
- Wirtschaftsliberalen Wählern ist es am wichtigsten, niemandem etwas wegzunehmen. Sie denken an Eltern, die hart arbeiten, das Geld aber nicht für ihre Kinder ausgeben können, weil es der Staat jemandem gibt, der keine Lust zum Arbeiten hat. Parteien erreichen liberale Wähler, indem sie zeigen, wie sie das Geld bei denen lassen, die es sich ehrlich verdient haben. Das macht vor allem die FDP.
- Grünen Wählern ist es am wichtigsten, die Natur zu schützen. Sie denken an Kinder und wollen, dass sie in einer gesunden Umwelt aufwachsen. Parteien appellieren an Grüne Wähler, indem sie ihnen zeigen, wie sie die Welt langfristig erhalten.
Dabei gilt: Keinem Wähler ist einer dieser Teilbereiche völlig egal. Aber sie sind ihnen unterschiedlich wichtig. Die Partei, die ihrer Gewichtung am ähnlichsten ist, wählen sie. Aber keine Partei kann es sich leisten, einen der Teilbereiche völlig zu ignorieren.
Das Grundschema ist also immer gleich: Um die Stimme eines Wählers zu gewinnen, muss ihn eine Partei überzeugen, dass sie für die Menschen, die er liebt, Gutes tun kann. Das kann sich auf ihn selbst zu beziehen, schließt aber meistens seine Familie, Freunde und soziale Gemeinschaft mit ein.
Das erklärt auch den Erfolg der Grünen. Egal, ob ein Wähler anderen helfen, Strukturen erhalten oder die Umwelt schützen will, im Klimaschutz kann er für alle dieser Ziele das geeignete Werkzeug sehen. Deswegen sprechen die Grünen Wähler vieler Lager an und gewinnen stetig an Einfluss.
Vielseitige Botschaft: Die Grünen erreichen derzeit Wähler aller Lager. Deswegen sind sie so stark.
Ebenfalls interessant: Auch Bewegungen, die wir heute mit Hass verbinden, überzeugten ihre Anhänger, indem sie an ihre Liebe appellierten. Zum Beispiel die Nationalsozialisten: Selbst Adolf Hitler bemühte in seinen Reden Werte wie Gemeinschaftsgefühl, Uneigennützigkeit und sogar Hilfsbereitschaft. Er sagte, den Deutschen sei ein Verbrechen angetan worden. Wer Deutschland und die Deutschen liebe, müsse nun zusammenstehen, um sich von den angeblichen Tätern zu befreien. So motivierte er den Hass gegen Juden, Kommunisten und alle, die er als die Täter dieses Verbrechen hinstellte. Aber: Der Hass war nur der zweite Schritt. Der erste war auch bei Hitler ein Appell an die Liebe.
Das zeigt: Jede politische Partei appelliert an die Liebe ihrer Wähler. Es macht allerdings einen großen Unterschied, wie sie das macht. Je mehr sie klare Feindbilder verwendet, umso mehr Hass erzeugt sie. Die AfD verwendet mehr Feindbilder als CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke. Deswegen schafft sie auch mehr Hass. Ähnlich ist es bei Donald Trump in Amerika, Matteo Salvini in Italien und Marine Le Pen in Frankreich.
Fazit
- Die AfD lügt systematisch, um ihre Botschaft zu verkaufen.
- Die Lügen der AfD knüpfen an einige wenige Fakten an, die Geschichten wahr wirken lassen. Diese verzerrt sie allerdings derart, dass das Endergebnis fast nichts mehr mit der Wahrheit zu tun hat.
- Die AfD appelliert mit ihren Lügen an das Mitgefühl der Menschen. Die Mehrheit ihrer Anhänger will daher genauso das Beste für alle, wie die Mehrheit der Anhänger aller anderen Parteien.
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