Die goldene Vergangenheit gab es nie. Wer dennoch an sie glaubt, muss erklären, warum heute alles schlechter ist. Dabei kommt selten etwas Sinnvolles heraus.
Die Menschheit ist vom rechten Weg abgekommen. Für den britischen
Wissenschafts-Autor Michael Hanlon steht das fest. Früher, schreibt Hanlon in einem Artikel, war das anders: Die beste aller Zeiten bestand zwischen 1945 und 1971. Jede wichtige Entwicklung unserer Zeit sei in diesem „Goldenen Viertel“ des letzten Jahrhunderts entstanden, seit dem herrsche Stillstand. Heute sind wir angeblich zu verängstigt, um Großes zu versuchen.
Mit dieser Ansicht reiht sich Hanlon ein in die Liste bekannter Untergangspropheten. Von Sektenführern bis Karl Marx, vomJahr-2000-Bug bis Adolf Hitler – die Menschheit steht angeblich schon seit Tausenden von Jahren am Abgrund. Nur: Bis jetzt hat die Welt nicht nur alle angeblichen Verwerfungen überlebt, sie wird sogar immer besser. Auch Hanlons Theorie ist Panikmache. Die entscheidende Frage ist: Wieso glaubt die Mehrheit der Menschen an ähnliche Untergangsszenarien?
Früher war alles schlechter
Laut Hanlon macht die Menschheit keine Fortschritte mehr. Computer, iPhones und Internet? Alles nur Weiterentwicklungen von Technologien, die entweder im Goldenen Viertel erfunden wurden oder für die in dieser Zeit zumindest der Grundstein gelegt wurde. Genau wie alles andere auch.
Entwicklungen, die Hanlon seinem „Goldenen Viertel“ zuschreibt sind unter anderem:
- Die Pille,
- Elektronik,
- Computer,
- Internet,
- Kernenergie,
- Fernsehen,
- Antibiotika,
- Raumfahrt, und
- Menschen.
Laut Hanlon ist nichts von dem, was die Menschheit nach 1971 leistete mehr als eine geringfügige Verbesserung der Dinge, die bis dahin bereits angestoßen waren. Diese Liste ist der einzige Beweis, den er für seine These anführt.
In Hanlons Goldenes Viertel fällt
eine der größten Leistungen der Menschheit – die Mondlandung.
Mit dieser Liste fällt Hanlons Argument auseinander. Die einzige Erfindung, die tatsächlich zwischen 1945 und 1971 erfunden wurde, ist das Internet. Alle anderen Ideen reichen weiter zurück – zum Teil mehrere Jahrtausende.
Hier einige Beispiele:
- Den ersten Fernseher gab es im Jahr 1851. In der 1920ern war die Technologie gereift und konnte bereits erste Bilder übertragen. Die erste Farbübertragung gab es 1938. Zu Beginn von Hanlons Goldenem Viertel war das Fernsehen weit gereift. Verglichen mit diesen Entwicklungen und denen seitdem – zum Beispiel Streaming, HD und Smart TV – sind die Jahre von 1945 bis 1971 unbedeutend.
- Die ersten programmierbaren Computer gab es in den 1820er-Jahren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnten Computer bereits Daten einlesen und ausgeben, rechnen und Befehle ausführen. Konrad Zuse entwickelte die ersten völlig elektrischen Computer ab dem Jahr 1939. Zwar entwickelte sich die Idee von 1945 bis 1971 weiter – aber nicht schneller als in der Zeit davor oder danach.
- Die Grundlagen der Raumfahrt entwickelte der Amerikaner Robert H. Goddard ab 1917. Als erste Rakete erreichte die deutsche V2 1943 den Weltraum – ungefähr 3000 Mal bis zum Ende des zweiten Weltkriegs. Sie ging, genau wie die amerikanischen Raketen während des angeblichen Goldenen Viertels, auf die Ideen Goddards zurück. auch den Weltraumflug kann man also nicht ausschließlich der Zeit zwischen 1945 und 1971 zuschreiben.
Gleiches gilt für alle anderen Beispiele Hanlons. Der erste Nuklearreaktor der Welt ging im Rahmen des Manhattan-Projekts im Jahr 1943 in Betrieb. Die ersten Menschenrechte gab es im Römischen Reich, 2300 Jahre vor dem Goldenen Viertel. Auch seit 1971 hat sich, zum Beispiel in Bezug auf Homosexuelle und Transgender, viel getan. Die Medizin hat sich durch bessere Behandlungsmethoden und die Unterstützung des Computers dramatisch verbessert.
Hanlon schreibt Erfindungen, die sich über Jahrtausende entwickelten, alle einem Vierteljahrhundert zu. Das wirkt dann wie Superman verglichen mit einem Durchschnitts-Bürger – ist aber eine Lüge.
Die Wahrheit ist: Der menschliche Fortschritt ist ein ständiger Prozess. Die Menschheit verbessert ständig, was bereits da ist, und kombiniert bestehende Ideen zu neuen, besseren Ideen. Wir könnten die oben angeführten Beispiele auch noch weiter zurückverfolgen. Strenggenommen begann die Entwicklung des Computers mit den ersten mechanischen Rechenhelfern wie dem Rechenschieber. Die ersten Raketen stiegen in China um 1300 in den Himmel, die medizinische Entwicklung begann 3000 vor Christus.
Der Punkt ist: Kaum eine Erfindung hat einen exakten Anfang. Ganz sicher haben nicht alle Erfindungen, die unsere Zeit ausmachen, ihren Anfang in einem Goldenen Viertel von 1945 bis 1971.
Das gar nicht Goldene Viertel
Hanlon pickt sich aus dem Goldenen Viertel die Aspekte heraus, die zu seiner Argumentation passen und ignoriert den Rest. Das Ergebnis klingt schlüssig, ist es aber nicht. Nach dem gleichen Ansatz könnten wir die Zeit zwischen 1945 und 1971 zu allem machen, was wir wollen. Sogar der schlimmsten Periode der Geschichte.
Beispiele dafür gibt es mehr als genug:
- Nach dem zweiten Weltkrieg stand die Welt vor der nuklearen Apokalypse. Zum ersten Mal in der Geschichte konnte sich die Menschheit selbst auslöschen. Einige Male wäre es beinahe so weit gekommen, zum Beispiel während der Kuba-Krise im Jahr 1962.
- John F. Kennedy wurde im Jahr 1963 erschossen, sein Bruder Robert 1968, Martin Luther King ebenfalls 1968 und Malcom X 1965. In den USA waren die 60er eine Zeit der politischen Morde. Heute wissen wir, dass die Welt das überlebte. Damals schien es vielen Menschen aber, als würde jeder, der sich für das Gute einsetzt, sterben.
- In Ostdeutschland baute die sozialistische Regierung eine Mauer und begann, jeden zu erschießen, der dennoch in den Westen fliehen wollte.
- Der Vietnam-Krieg begann 1955. Über zwei Jahrzehnte starben Millionen Menschen, viele davon Zivilisten.
- Zwischen 1958 und 1961 verhungerten durch den Großen Sprung nach vorn 45 Millionen Chinesen. Damit war die politische Maßnahme des chinesischen Führers Mao Zedong genauso tödlich wie der Zweite Weltkrieg.
- In den 1950ern entwickelte sich die Lobotomie zur anerkannten medizinischen Behandlungsmethode. Ärzte führten einen kleinen Eispickel durch die Augen in das Gehirn ihrer Patienten ein und zerstörten unkontrolliert einen Teil der Verbindungen. Sie hofften, so geistige Krankheiten heilen zu können, trotz fehlender Studien und Beweise. Die Patienten trugen schwere lebenslange Schäden davon. Die Lobotomie bleibt eine der barbarischsten Methoden der Medizingeschichte.
Hanlons Goldenes Viertel war keineswegs nur positiv. Der Brite begeht den gleichen Fehler wie alle Nostalgiker: Er geht davon aus,das früher sowieso alles besser war und pickt sich die Beispiele heraus, die diese Ansicht bestätigen. Mondlandung ja, Vietnam nein.Psychologen nennen das den Bestätigungsfehler (engl. confirmationbias). Der Bestätigungsfehler verzerrt unsere Weltsicht – und das kann gefährlich werden.
Während Hanlons Goldenem Viertel fielen 400.000 Tonnen Napalm auf Vietnam. Der auf Benzin basierende Kampfstoff verbrennt Gebiete großflächig – und die Menschen darin.
Die Gefahr der Nostalgie
Hanlons Goldenes Viertel zeigt: Je nachdem, auf welche Beispiele wir uns konzentrieren, könnten wir jede beliebige Epoche als beste oder schlimmste der Geschichte darstellen. Das Problem dabei: Beiden Bilder sind eine Lüge. Die Realität ist weder schwarz noch weiß. Wer glaubt, das alles immer entweder besser oder schlechter als alles anderes sein muss, liegt immer falsch.
Auch die Zeit von 1945 bis 1971 war weder die beste aller Zeiten noch die schlechteste. Es gab gute und schlechte Aspekte, genau wie in jeder anderen Zeit auch. Die ganze Wahrheit versteht nur, wer beide Seiten sieht statt eine der Seiten zu verallgemeinern und die andere zu ignorieren.
Das Problem dabei: In unserem täglichen Leben macht Nostalgie Sinn. Ein realistischer Blick auf die Ärgernisse des Alltages würde uns depressiv machen. Besser, sich selektiv an die guten Dinge zu erinnern und jeden Tag mit einem guten Gefühl anzugehen.
Diese Herangehensweise lässt sich nicht vom Alltag auf größere, politische Strukturen übertragen. Bestes Beispiel: Auch Donald Trumps Anhänger sind Nostalgiker. Sie hoffen, Trump könne Amerika wieder groß machen. Das wieder zeigt: Auch sie glauben an eine goldenen Epoche, in der alles besser war. Dabei gehen sie ähnlich selektiv vor wie Hanlon. Sie reisen ein, zwei positive Dinge aus dem Zusammenhang und ignorieren alle negativen Aspekte. Für die Gegenwart machen sie es umgekehrt: Sie konzentrieren sich nur auf das Schlechte, blenden aber alles Gute aus. Dann vergleichen sie die ungleichen Bilder und kommen zu dem Schluss, es brauche radikale Veränderungen.
Auch in Deutschland versuchen Parteien, Zerrbilder zu nutzen. Die soziale Ungleichheit, die Umweltverschmutzung, die Armut – alles wird angeblich immer schlimmer und wir brauchen drastische Veränderungen, um zu überleben. Widersetzt sich jemand, muss man ihn zwingen – es steht schließlich das Glück der Gesellschaft auf dem Spiel. Von den Krawallen in Chemnitz bis zur routinemäßigen Randale am 1. Mai – wer glaubt, alles steht auf dem Spiel, glaubt auch, er dürfe sich alles erlauben. Das endet nie gut.
Untergangs-Weltbilder beruhen auf selektiv falschen Informationen. Führen sie zu Entscheidungen, können sie viel Schaden anrichten. Wir zerstören dann die Erfolgspfeiler der Vergangenheit.
Fazit
- Es gibt keine goldene Vergangenheit. Der Glaube an eine Zeit, in der alles besser war, ist das Ergebnis einer selektiven Auswahl der Fakten.
- Die Gegenwart steht nicht vor der Apokalypse. Auch diese Weltsicht ist selektiv. Wie zu jeder Zeit gibt es einige Probleme. Wie zu jeder Zeit werden wir sie lösen.
- Populisten und Demagogen nutzen unseren intuitiven Zukunfts-Pessimismus, um uns ihre Ideen als einzige Möglichkeit zu verkaufen, den Untergang abzuwenden. Diese Argumentation ist eine Lüge. Es gibt keinen Grund, radikal zu werden.