Als am Montag ein 24-jähriger Asylbewerber aus Afghanistan sein Auto absichtlich in eine Demonstration der Gewerkschaft Verdi in der Münchner Innenstadt steuert, zeigt die folgende Debatte, wie Populismus entsteht. Innerhalb weniger Stunden bestimmt der Anschlag Gespräche in Politik und an Küchentischen. Das Land versucht zu verstehen, wie so etwas geschehen kann.
Populismus entsteht, weil Politiker und Menschen an Küchentischen unterschiedlich über Themen reden. Klafft der Unterschied zu groß, ebnet er die Bühne für Politiker wie Alice Weidel und Donald Trump.
Das Gleichgewicht zwischen Küchentisch und Bundestag
Politiker sprechen notwendigerweise anders als Menschen am Küchentisch.
- Politiker reden für ein ganzes Land. Sie müssen viele grundsätzlich richtige Ideen miteinander abwägen. Sie müssen die Folgen eines Gesetzes für alle Menschen bedenken, ob reich oder arm, Mehrheit oder Minderheit, hier geboren oder woanders geboren.
- Menschen am Küchentisch reden zuallererst für sich. Sie suchen den besten Weg, mit der Welt umzugehen. Also fragen sie stärker, was ein Ereignis für sie bedeutet. Sie sprechen emotionaler und fällen klarere Urteile.
Der Bundestag bezeichnet Küchentisch-Antworten daher oft als zu einfach. Der Küchentisch bezeichnet Politsprech oft als zu kompliziertes Gerede. Beides stimmt nicht ganz: Menschen am Küchentisch und im Bundestag müssen unterschiedlich reden. Die einen suchen Lösungen für ein Land, die anderen Lösungen für sich und ihre Liebsten. Wer beide Sprecharten völlig angleichen will, scheitert wie die ehemaligen Ostblockstaaten, die Menschen beim Abendessen Karl-Marx-Gebabbel aufzwingen wollten. Darauf hat nach einem harten Arbeitstag niemand Lust.
Trotzdem dürfen sich die Gespräche im Bundestag auch nicht zu weit von denen am Küchentisch entfernen.
Populismus entsteht, wenn sich Bundestag und Küchentisch zu weit entfernen
Stellen wir uns Politdebatten als zwei Kugeln vor, die durch eine Feder verbunden sind. Eine Kugel steht für die Gespräche am Küchentisch, die andere für die Debatten im Bundestag:
- In Ruhe besitzt jede Feder eine gewisse Länge. Die Kugeln sitzen still an ihren Enden. Die Entfernung zwischen ihnen bleibt gleich.
- Entfernen wir die Kugeln voneinander, spannt sich die Feder.
- Irgendwann wird die Spannung zu stark. Die Feder zieht sich ruckartig zusammen. Ihr Schwung schießt die Kugeln aufeinander.
Gleiches passiert in der Politik: Entfernt sich die Debatte im Bundestag zu weit von der am Küchentisch, wächst die Spannung zwischen beiden. Die Menschen meinen, ihre Sorgen kämen in der Politik nicht mehr vor. Das stimmt in Deutschland nicht. Aber es schafft eine Spannung. Wird diese Spannung zu stark, treffen beide zusammen. Die Menschen wählen Politiker, die Küchentisch-Sprache sprechen. Dann schlägt die Stunde der Populisten.
Politiker, die reden wie am Küchentisch, schaffen nur Probleme
Küchentisch-Sprache in der Politik ist aus zwei Gründen problematisch:
- Wer komplexen Themen mit Küchentisch-Lösungen begegnet, scheitert. Er übersieht Probleme, verharmlost Nachteile und zwingt Lösungen, die in manchen Fällen richtig sind, auch den Situationen auf, in denen sie nur Schaden anrichten. Damit verschlechtert er die Welt.
- Populisten verstärken die Spannung zwischen Küchentisch und Bundestag, weil sie von ihr profitieren. Sie verbreiten Falschinformationen und einfache Slogans, sie vereinfachen komplexe Themen und sie erklären Gegner für dumm oder bösartig. Sie sorgen dafür, dass Menschen verlernen, komplexe Probleme differenziert zu betrachten, und stattdessen einfache Feindbilder übernehmen.
Vereinfacht sich die Debatte am Küchentisch, bleiben dem Bundestag daher nur zwei Optionen:
- Er vereinfacht seine Debatten ebenfalls und nimmt in Kauf, Probleme dadurch schlechter zu lösen.
- Er vereinfacht seine Debatte nicht und nimmt in Kauf, dass sich die Spannung zum Küchentisch verstärkt. Irgendwann übernimmt die Wahl eines Populisten die Vereinfachung dann ruckartig.
Das Ergebnis bleibt in beiden Fällen gleich: Deutschland löst seine Probleme schlechter. Es verlernt die Politik.
Beispiel Wärmepumpe: Wie wir Politik verlernen
Wie Populisten Deutschland die Politik verlernen, zeigt das Heizgesetz von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Während dieser im Bundestag über CO2-Einsparungen und Energieeffizienz sprach, sorgten sich die Menschen am Küchentisch um Kosten und Aufwand eines Heizungstauschs.
Populisten stiegen darauf ein, indem sie die Sanierungskosten in Unbezahlbare hochrechneten und die Heizleistung von Wärmepumpen schlecht. Sie behaupteten, CO2 habe nichts mit dem Klimawandel zu tun und Wärmepumpen verursachten sogar mehr Treibhausgase. Die Menschen sträubten sich immer stärker gegen das Heizgesetz.
Obwohl Wärmepumpen die günstigste und klimafreundlichste Heizung darstellen, obwohl der Staat die Umrüstung mit je Tausenden Euro fördert und obwohl Wirtschaft, Umweltverbände sowie Verbraucherschützer alle dringend am Gesetz festhalten wollen, fordern nun Parteien im Wahlkampf dessen Ende. Wir diskutieren nicht Förderhöhen. Wir diskutieren weder Lösungen für verbleibende Probleme noch „Wie?“ und „Wann?“. Weil Politiker den Küchentisch falsch einschätzten und weil Populisten alles taten, die daraus entstehende Spannung zu verschlimmern, streiten wir, ob wir einen Weg, der fast nur Vorteile bringt, überhaupt gehen. Wir haben Politik ein wenig verlernt.
Machen wir so weiter, verlernen wir die Politik ganz
Machen wir weiter wie bisher, wiederholen wir das Wärmepumpen-Debakel bei jeder Debatte.
- Politiker erklären ihre Ziele nie perfekt. Jeder macht Fehler. Also finden Populisten immer Ansatzpunkte, alles schlechtzureden.
- Selbst wenn Politiker alles perfekt erklären, schieben Populisten den Küchentisch weiter vom Bundestag weg: Sie hinterfragen alles, worauf wie uns eigentlich lange geeinigt haben. Sie stellen Menschenrechte und Demokratie infrage, verbreiten Falschnachrichten und säen Misstrauen gegen Politik und Wissenschaft. Weil Soziale Medien ihnen dafür ideale Werkzeuge liefern, tun sie dies so effektiv wie nie.
Machen wir weiter wie bisher, wächst die Kluft zwischen Küchentisch und Bundestag und mit ihr die Unterstützung für Populisten. Irgendwann gewinnen die Populisten, so wie sie es in den USA, England, Italien, Österreich, Ungarn, der Türkei und vielen anderen Ländern getan haben.
Wie wir auch weiterhin unsere Probleme lösen
Wollen wir auch in zehn oder zwanzig Jahren noch in einer funktionierenden Demokratie leben, müssen wir die Debatten am Küchentisch nahe genug an denen im Bundestag halten, um den Populismus-Kurzschluss zu verhindern. Wir haben drei Möglichkeiten:
- Politik näher an die Bürger bringen: Politiker sollten sich bemühen, politische Maßnahmen verständlich und bürgernah zu erklären. Nicht jeder verfolgt wissenschaftliche Debatten, aber jeder versteht Alltagsprobleme.
- Zwischen den Sprachen vermitteln: Menschen, die politische Zusammenhänge verstehen, sollten helfen, sie zu erklären. Demokratie lebt von Gesprächen. Wir alle können Brücken bauen. Oft hilft es schon, zu erklären, warum Politiker notwendigerweise anders reden als Normalbürger.
- Bewusstsein für gute Kommunikation schaffen: Wer faktenbasierte, sachliche Medien unterstützt und unsachliche, spaltende Rhetorik ablehnt, verbessert die politische Kultur.
Nehmen wir die Sache selbst in die Hand
Der Anschlag von München zeigt, wie dringend unser Land uns braucht. Wieder schlachten Populisten die Tat aus. Wieder verbreiten sie Falschinformartionen. Wieder diskutieren sie aufgeregt das Verbrechen eines Asylbewerbers, während sie schlimmere Verbrechen von Deutschen ausblenden.
Wer den Zusammenhang zwischen Küchentisch und Bundestag versteht, erkennt, warum wir über diese Debatten nicht die Augen rollen sollten:
- Die meisten Menschen am Küchentisch verstehen nicht, warum es so schwer ist, Leute abzuschieben.
- Die meisten Menschen am Küchentisch verstehen nicht, warum Leute in unserem Land sind, die wiederholt gegen unsere Gesetze verstoßen.
- Politisch ist richtig, dass man Leute schwer abschieben kann, wenn man nicht weiß, wohin. Politisch ist richtig, dass die Heimatländer dieser Leute sie gar nicht wiederhaben wollen. Doch diese Probleme muss die Politik lösen. Sonst entfernen sich ihre Debatten unrealistisch weit von denen beim Abendessen.
Weil diese Probleme aber kompliziert sind, dauert es noch, bis die Politik sie löst. Die Zukunft unserer Demokratie hängt daher davon ab, ob wir den Politikern den Druck dafür machen und ob wir in der Zwischenzeit Gespräche am Abendessen ein wenig konstruktiver gestalten oder ganz den Populisten überlassen. Denn die kämpfen um sie. Ohne Widerstand gewinnen sie.
Wie wir Populismus erkennen und aus der Politik verbannen, erfahren Sie in meinem Buch „Es gewinnen alle oder keiner“.
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