Links-Außen-Wähler, die für den Rechts-Außen-Kandidaten stimmen – das kann nicht sein, sollte man meinen. Bei der US-Präsidenten-Wahl 2017 passierte allerdings genau das in einer Größenordnung, die kein Zufall mehr sein kann. Etwa zehn Prozent der Anhänger von Bernie Sanders stimmten für Trump und entschieden damit womöglich die Wahl, sagen Statistiken. Die politische Philosophie kann Erklärungsansätze für dieses Verhalten liefern.
Warum wählten so viele Sanders Anhänger Trump?
In einer US-Präsidentschaftswahl, in der es an kuriosen Episoden nicht mangelte, lieferten einige Bernie-Sanders-Anhänger die kurioseste. Nachdem der Links-Außen-Kandidat im Rennen um Nominierung der demokratischen Partei diese an Hillary Clinton verloren hatte, sagten manche seiner Unterstützer Dinge wie: „Ich würde sogar für Trump stimmen, bevor ich für Hillary Clinton stimme.“ Zwar dachten die meisten Sanders-Anhänger anders, aber Statistiken gehen davon aus, dass etwa 10 Prozent von ihnen tatsächlich Trump ihre Stimme gaben. In der knappen Wahl machte diese Gruppe womöglich den Unterschied.
Diese Entwicklung ist aus einigen Gründen höchst interessant:
- Charakterlich sind Bernie Sanders und Donald Trump genaue Gegenteile. Sanders fährt ein kleines Auto, Trump lebt in einem goldenen Apartment. Sanders sieht die Welt nuanciert und erkennt ihre Komplexität an, Trump generalisiert und tönt einfache Schein-Lösungen. Politikwissenschaftler würden annehmen, dass Menschen, die Sanders bewundern, Trump verachten. Auf dem Papier scheint Hillary Clinton Sanders viel ähnlicher als Trump.
- Politisch sind Bernie Sanders und Donald Trump genaue Gegenteile. Sanders steht für mehr Umverteilung, Trump für weniger. Sanders will illegale Einwanderer besser behandeln, Trump sie rauswerfen und eine Mauer zu Mexiko bauen. Sanders will den Klimawandel stoppen, Trump ignoriert ihn. Politikwissenschaftler würden annehmen, dass Menschen, die Sanders Ziele erreichen wollen, Clinton Trump vorziehen. Ihre Ziele sind denen von Sanders viel ähnlicher.
- Bernie Sanders unterstützte Hillary Clinton und bat seine Anhänger, einen Präsident Trump zu verhindern. Warum ignorierten einige Sanders-Anhänger seine unmissverständliche Bitte? Sie vertrauten ihm in allen anderen Fragen. Warum nicht in dieser? Wenn einige von ihnen nicht für Clinton stimmen wollten, hätten sie der Wahl einfach fern bleiben können. Aber das taten sie nicht. Sie haben nicht nur nicht für Clinton gestimmt, sie stimmten für Trump. Was trieb sie zu diesem überraschenden Schritt?
Gleichgültig was jeder einzelne Unterstützer von Bernie Sanders ursprünglich erreichen wollte, mit einer Stimme für Trump konnte er es wohl nicht. Natürlich ist es in einer Demokratie Menschen erlaubt zu wählen, wen sie wollen; und für Wähler, die eine Grenzmauer befürworten, war Trump die offensichtlich beste Wahl. Wenn aber einige Wähler vom Kandidaten ganz links zum Kandidaten ganz rechts wechseln, können politische Ziele nicht ihre Hauptmotivation sein.
Was hat die ursprünglichen Intentionen dieser Wähler überschrieben? Wie können wir selbst in Zukunft bessere Wahlentscheidungen treffen? Das sind wichtige Fragen, also versuchen wir, eine Antwort zu finden.
Mit derzeitigen Theorien können wir nicht erklären, warum einige Sanders-Anhänger lieber Trump als Clinton wählten. Ohne eine rationale Erklärung bemühen wir das Irrationale und stellen beispielsweise die Intelligenz dieser Menschen infrage.
Diese Erklärungen sind jedoch wenig hilfreich. Nicht alle Sanders-Anhänger, die für Trump stimmten, können dumm sein. Einfachen Erklärungen entgeht die größere Dynamik dieser Entscheidungen und sie nehmen uns die Chance, Lektionen abzuleiten, die wir auf ähnliche zukünftige Probleme übertragen können.
Glücklicherweise gibt es eine Lösung für diese Problem: die Theorie der Moralischen Dualität. Sie hilft uns, die geistigen Prozesse hinter diesen Entscheidungen besser zu erklären und die Ergebnisse auf andere Situationen zu übertragen.
Interessanterweise waren die Sanders-Anhänger, die Trump statt Clinton wählten, auch die fanatischsten. Die Theorie der Moralischen Dualität zeigt, warum das kein Zufall ist.
2016 waren viele US-Bürger unzufrieden. In Ihren Augen schien die Regierung unfähig, wichtige Dinge zu erledigen. Dieses Dilemma schrieben sie dem Establishment zu, das angeblich nur seinen eigenen Interessen diente und dem Willen reicher Spender gehorchte. Die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung seien dem Establishment egal.
Auch Sanders-Anhänger glaubten, dass die Politik ohne Weiteres das Leben vieler Menschen mit freier Bildung und Krankenversicherung für alle verbessern könnte, wenn sie die vorhandenen Mittel nur fairer einsetzen und sich mehr um die Interessen der einfachen Leute kümmern würde. Sie hielten Bernie Sanders für den Kandidaten, der die Herrschaft des Establishments beenden würde, während Hillary Clinton das Establishment personifizierte.
Diese Idee ist an sich völlig harmlos. Viele Wähler in demokratischen Gesellschaften sind von der Regierung enttäuscht und stimmen dafür, sie zu ersetzen. Das Problem dieser Form der Idee liegt darin, dass sie Bernie Senders als Retter positionierte. Diese Sichtweise beinhaltet ein hohes destruktives Potential, denn sie zeigt die drei typischen Eigenschaften destruktiver Ideen:
- Unterteilung der Welt in unversöhnliche Gruppen. Es gibt ein Establishment und ein Nicht-Establishment. Beide Gruppen stehen sich per Definition gegenüber, und der Konflikt kann nur enden, indem eine Gruppe gewinnt.
- Berufung auf eine höhere Wahrheit. Das Establishment ist per Definition böse und verfolgt seine eigene Agenda. Bernie Sanders handelt als einziger im besten Interesse des Volkes und kann deswegen tun, was niemandem vor ihm gelang.
- Binäres Argument. Hillary Clinton ist die ultimative Establishment-Person und daher eine unendlich böse Bedrohung. Bernie Sanders als ultimative Nicht-Establishment-Person beschützt das Gute.
Wenn wir jemanden als Retter sehen, schaffen wir automatisch eine unendlich böse Bedrohung, vor der diese Person uns beschützen muss. Genau wie Don Quixote – ein Ritter, der in Ermangelung echter Drachen gegen Windmühlen kämpft – brauchen auch politische Retter eine Bedrohung, sonst könnten sie niemanden retten.
Das Problem besteht in der Dynamik, dass wir oft einen Retter sehen, bevor wir eine unendlich böse Bedrohung erkennen. Wir unterstützen einen Kandidaten von ganzem Herzen und fragen uns, warum dieser noch nicht die volle Unterstützung seiner Partei erhält. Oft gibt es dafür gute Gründe – meist sind die Ideen des Kandidaten in der Gesamtbevölkerung weniger populär als unsere durch den False-Consensus-Bias verzerrte Wahrnehmung uns glauben lässt. Oft sind Politiker auch schwierige Persönlichkeiten, schlechte Redner oder haben andere Leichen im Schrank. Wenn wir aber einen Politiker für den besten der ganzen Welt halten und unser direkter Umkreis dem zustimmt, dann sind diese Dinge oft schwer wahrzunehmen.
Wir glauben, dass unser Held unfair seiner legitimen Rolle als politischer Anführer beraubt wurde. Dadurch stellt sich die Frage, wer ihm diese Rolle raubte. Egal, wie wir diese Frage beantworten – ob wir auf die Opposition zeigen, eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft oder, wie bei einigen Sanders-Anhängern, auf das Establishment – wir schaffen eine unendlich böse Bedrohung. Wir glauben, diese Menschen stünden dem Guten im Weg und wir müssten gegen sie kämpfen.
Im Falle von Bernie Sanders war Hillary Clinton die unendlich böse Bedrohung, die seine Rolle als Retter rechtfertigte. Als Sanders die Nominierung verlor, konnten einige seiner Anhänger nicht für Clinton stimmen, weil sie in ihr immer noch die unendlich böse Bedrohung sahen. Ihre erste Priorität war der Kampf gegen diese Bedrohung, und alles, was sie stoppen konnte, war ihnen Recht – sogar ein Präsident Trump. Selbst die Unterstützung Sanders‘ für Clinton und die fundamentalen politischen und charakterlichen Unterschiede zwischen Sanders und Trump schafften es nicht, diese Dynamik der Idee zu überschreiben.
Wie geht es besser?
Natürlich stimmten nicht alle Sanders-Anhänger für Trump. Viele vermieden die Fanatismus-Falle. Ihnen gefielen Sanders‘ Ideen, aber als er die Nominierung verlor, liefen sie zur besten Alternative über und stimmten für Clinton. Derartige Entscheidungen sind wichtig für den demokratischen Prozess.
In demokratischen Gesellschaften steht es den Menschen frei, für jeden Kandidaten zu stimmen. Dennoch ist es interessant, die Entstehung dieser Wahlentscheidungen zu verstehen und die Entwicklung der ihnen zugrunde liegenden Ideen aufzuzeigen. Die US-Präsidentenwahl von 2016 brachte mehr dieser interessanten Entwicklungen als alle anderen. Das Phänomen der Sanders-Anhänger, die für Trump stimmten, ist nur eines davon. Es warnt uns, Politiker nicht zu schnell zu Rettern zu erheben, weil dies automatisch eine unendlich böse Bedrohung erschafft, vor der sie uns retten müssen.
Die Wähler, die Sanders unterstützten, weil er mehr Umverteilung versprach, hätten ihre politischen Ziele besser erreichen können, indem sie für Clinton statt Trump stimmten. Diese Wähler unterstützten Sanders zunächst, weil sie in ihm ein Werkzeug sahen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Nachdem Sanders allerdings die Nominierung verlor, verwechselten einige von ihnen ihr Werkzeug – für eine Nicht-Establishment-Person zu stimmen – mit einem Ziel an sich. Deswegen unterstützen sie Trump statt Clinton.
Diese Entwicklungen sind gefährlich. Wenn sich herausstellt, dass uns unser Retter doch nicht retten kann, bleibt die unendlich böse Bedrohung bestehen und beeinflusst unsere Wahrnehmung. Deswegen stimmen wir vielleicht für Politiker, die nie die Veränderungen erzeugen, die wir wünschen.
Wenn wir die Fähigkeit verlieren, die Politiker zu unterstützen, die unsere wirklichen Ziele repräsentieren, öffnen wir die Tür für destruktive Ideen, Manipulation und Propaganda. Demokratien brauchen unbedingt mündige Bürger, die Ihre politischen Ziele in Wahlentscheidungen umsetzen können.
In einer Demokratie ist die Verehrung einzelner Politiker als Retter oft schädlich. Auf lange Sicht erzeugen Demokratien die besten Ergebnisse für die Bürger, weil die Politiker dem Volk Rechenschaft schulden und deswegen in seinem besten Interesse handeln müssen. Dieser Prozess spielt das Eigeninteresse machthungriger Politiker gegen das Eigeninteresse anderer machthungriger Politiker aus. Dieser Prozess kann manchmal schmutzig und ungerecht wirken, aber er schützt die Freiheit des Individuums und die Funktionalität demokratischer Gesellschaften.
Wenn unseren Lieblingspolitikern infolge dieses Prozesses das Regierungsrecht verwehrt bleibt, ist es normal, frustriert zu sein. Aber wir müssen verhindern, dass uns dieser Frust dazu verleitet, Politiker und Ideen zu unterstützen, die wir eigentlich ablehnen.
So lange die essentiellen demokratischen Institutionen ungehindert arbeiten können, werden sie die bestmöglichen Ergebnisse erzeugen. Die Integrität dieses Prozesses zu schützen ist wichtiger als das Schicksal einzelner Politiker.
Der wichtigste Schritt auf diesem Weg ist es, die Fanatismusfalle zu vermeiden. Wenn wir den Fehler machen, einen weißen Ritter und eine unendlich böse Bedrohung zu erschaffen, verlieren wir eine realistische Sicht auf die Welt und verzerren den demokratischen Prozess.
Fazit
- Wird uns ein einzelner Politiker wichtiger als das demokratische System im Ganzen, erzeugen wir destruktive Ergebnisse – egal wer diese Person ist und wie gut ihre Absichten sind. Wir können sogar verführt werden, Kandidaten zu unterstützen, die die grundlegenden Systeme ablehnen, die eine Demokratie erfolgreich machen. Im Versuch, eine vorübergehende Krise zu bekämpfen, schaffen wir vielleicht eine dauerhafte.
- Weil einige Menschen Bernie Sanders als ihren Retter ansahen, mussten sie Hillary Clinton zur unendlich bösen Bedrohung erheben. Als Sanders die Nominierung verlor, wurde die Bekämpfung der unendlich bösen Bedrohung ihre Top-Priorität, wodurch selbst ein Präsident mit einer völlig gegenteiligen Politik und Persönlichkeit wie eine legitime Alternative aussah.
- Um ein ähnliches Dilemma zu vermeiden, müssen wir der Fanatismusfalle ausweichen. Wir sollten immer für die Kandidaten stimmen, die unsere Ziele am besten repräsentieren, ohne dabei den politischen Prozess zu gefährden.