Die USA gewinnen derzeit ein Rennen, an dem nur sie teilnehmen: das KI-Wettrennen. Deutschland und Europa sehen nur vorübergehend wie Verlierer aus. Denn hinter KI-Versprechen steckt viel Populismus.
Als Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im September in Jülich (Nordrhein-Westfalen) den Supercomputer „Jupiter“ einweiht, verdeutlichen die Reaktionen in Politik und Medien, wie anfällig Deutschland für populistische Erzählungen bleibt.
Jupiter rechnet mit 24.000 Hochleistungs-Chips schneller als alle anderen Computer Europas. Er gilt bei seiner Einweihung als viertschnellster Rechner der Welt.
Doch das sei alles zu wenig, zu spät, zu klein, sagen Kritiker.
Im KI-Wettrennen verdeutliche Jupiter, wie weit Europa zurückfällt, schreibt beispielsweise das Handelsblatt. Die USA investieren mehr Geld in Rechenzentren. Drei Viertel aller Rechenleistung stehen bereits dort. Bis ins Jahr 2030 baut das Land dutzendfach mehr neue Leistung als die Bundesrepublik. In einem derart ungleichen Wettrennen verändere ein einzelner Supercomputer in Jülich wenig, zumal viel Bürokratie und wenig Investitionen die KI-Branche hierzulande bremsen.
Die Fakten dieser Aussage stimmen alle. Doch sie zwängen das Thema Künstliche Intelligenz ins Muster eines Wettrennens, das Deutschland unbedingt gewinnen müsse.
Vieles spricht dafür, dass es sich Deutschland nicht nur leisten kann, das KI-Wettrennen zu verlieren. Vieles spricht dafür, dass es kein KI-Wettrennen gibt.
Die USA rufen das Wettrennen aus
Natürlich stimmt, dass die USA ein KI-Wettrennen ausrufen. Amazon, Microsoft, Meta (Facebook) und Alphabet (Google) investieren allein im Jahr 2025 knapp 400 Milliarden US-Dollar in Rechenzentren. Die Baukosten der mehrere Fußballfelder großen Anlagen lassen die US-Wirtschaft wachsen. Die steigenden Börsenkurse ihrer Bauherrn stützen den gesamten US-Aktienmarkt.
Aus Sicht dieser Firmen machen die Investitionen Sinn. Entwickeln sie eine echte selbst denkende Künstliche Intelligenz, löse diese in kürzester Zeit alle Probleme, sagen ihre Chefs. Sie könne Armut beenden, den Klimawandel stoppen und die Menschen die Galaxie bereisen lassen. Nebenbei entwerfen sie auch die besten Computer, Autos und so weiter.
Chefs, die so denken, müssen alles auf KI setzen.

Riesige Anlagen, riesige Investitionen: In Pangborn im Staat Washington baut Microsoft bis 2026 sechs Datenzentren auf einer Fläche so groß wie 100 Fußballfelder. Es ist eine von Dutzenden Anlagen, wie sie derzeit in den USA entstehen. Foto: Tedder - Own work, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=173551153.
Auch die Einwohner eines Landes profitieren, wenn ihre Chefs alles auf ihre Überzeugungen setzen. Tausende Unternehmen investieren in Tausende Zukunftsvisionen. Viele liegen falsch und gehen pleite. Die, die aber richtig liegen, liefern der Wirtschaft einen Wachstumsschub und den Menschen genau was sie brauchen. Indem unser Wirtschaftssystem kreative Zerstörung fördert, lässt es uns alle immer besser leben.
Niemand rennt mit
Was für einzelne Unternehmen Sinn macht, macht noch lange nicht für eine ganze Wirtschaft oder einen ganzen Staat Sinn.
Während die USA das KI-Wettrennen ausrufen, nennt der vermeintliche Hauptkonkurrent China Künstliche Intelligenz zwar eine „strategische Priorität“. Die Pekinger Regierung investiert aber im Jahr 2025 nur rund 100 Milliarden Dollar in deren Entwicklung. Das ist in etwa so viel wie allein Amazon und ein Bruchteil der gesamten Vereinigten Staaten.
Die Regierung in Peking setzt eher auf kostengünstige KIs wie DeepSeek, die weniger Rechenleistung verschlingen, und spezialisierte Anwendungen für einzelne Industrien. Derweil fördert sie auch andere Zukunftstechnologien: Elektroautos und Batterien, Solarzellen und Windräder, Rohstoffe und Robotik. Sie baut weitere Standbeine auf, statt alles auf KI zu setzen. Sie verhält sich, als sei KI womöglich eine Zukunftstechnologie, aber nicht sicher die eine alles entscheidende.
Auch Deutschland und Europa bleiben vorsichtiger als die USA. Die Ampelkoalition unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die schwarz-rote Koalition unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) investierten und investieren Milliarden in KI. Sie investieren aber auch Milliarden in andere Bereiche.
Von einem Wettrennen keine Spur.
„KI-Wettrennen“ schützt vor Regulierung
Von einem Wettrennen sprechen vor allem die Tech-Bosse im Silicon Valley.
Sie behaupten, der Staat dürfe ihre Firmen keinesfalls kontrollieren, weil sonst die böse und völlig unkontrollierte Konkurrenz aus China zuerst eine KI entwickele, die alle Probleme löst. Dann, so die Erzählung, verarmen die USA und China regiere die Welt.
Mit dieser Erzählung verhindern sie staatliche Kontrollen und Eingriffe.
Die Trump-Regierung übernimmt die Begründung, niemand dürfe die zeitkritische KI-Entwicklung bremsen. Er verbietet amerikanischen Bundesstaaten, KI-Regeln zu erlassen, und erlässt selbst keine bundesweiten Regeln.
Die Techfirmen verletzen derweil weitgehend ungestört Urheberrechte und ignorieren alle Warnungen vor den Gefahren der KI.

Ausgeblendete Warnungen: „Die Entwicklung einer vollständigen künstlichen Intelligenz könnte das Ende der Menschheit einläuten", warnte Physiker Stephen Hawking. "Sie würde sich selbstständig weiterentwickeln und sich in immer schnellerem Tempo neu entwerfen. Menschen, begrenzt durch die langsame biologische Evolution, könnten nicht mithalten und würden verdrängt werden.“ US-Vizepräsident JD Vance sagte auf einem KI-Gipfel im Februar: „Die KI-Zukunft wird nicht dadurch gewonnen, dass man sich die Hände ringt und über Sicherheit klagt.“ Foto: elhombredenegro - https://www.flickr.com/photos/77519207@N02/6801411136/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99825888.
Das KI-Wettrennen ist Populismus
Die Erzählung vom KI-Wettrennen verbreitet sich, weil sie typisch populistische Eigenschaften besitzt:
- Eine große Bedrohung: China entwickelt als erstes eine echte selbst denkende Künstliche Intelligenz. Die USA und der Westen gehen unter.
- Ein Retter: Die Tech-Chefs aus dem Silicon Valley können die USA retten. (Typischerweise sind die, die diese Erzählung verbreiten, auch die angeblichen Retter.)
- Menschen handeln gegen ihr Eigeninteresse: Wer die Erzählung glaubt, meint, es diene seinen eigenen Interessen, wenn die angeblichen Retter bekommen, was sie wollen. Er vernachlässigt seine eigenen Ziele zu ihren Gunsten.
Das KI-Wettrennen vereint Weltuntergangs-Angst mit Allheil-Versprechen: Wer es glaubt, kann ein für alle Mal gewinnen und alle Probleme lösen oder geht schrecklich unter. Dieses Muster ist typisch für Populismus und Hollywood-Filme, nicht für Wissenschaft, Philosophie oder ein realistisches Weltbild.
Botschaften mit diesen Eigenschaften verbreiten sich. Aber sie führen immer zu Problemen.
Länder, die alles auf eine Karte setzen, verlieren immer
Weil die Vereinigten Staaten einer populistischen Idee folgen, setzen sie alles auf einen kurzfristigen, vermeintlich endgültigen Sieg: Die Trump-Regierung streicht Fördergelder für Elektroautos und andere Technologien. Sie erschwert klassischer Industrie durch Zölle die Arbeit. Statt zweite und dritte Standbeine aufzubauen, erschwert sie deren Umsetzung. Warnungen vor den Gefahren von KI blendet sie aus.
Die USA handeln nach dem Motto „Gewinnen wir das KI-Wettrennen, lösen wir damit magisch alle Probleme“. So funktioniert Wirtschaft aber nicht. Es kann immer anders kommen. Es bleiben immer Probleme (mehr dazu im dritten Kapitel meines Buchs Es gewinnen alle oder keiner).
Marktwirtschaft schafft Wohlstand, weil sie, wie erwähnt, Tausende Firmen Tausenden Zukunftsvorstellungen folgen lässt. Verengt ein Land seine Wirtschaft auf ein mögliches Ergebnis von Tausenden, droht es genauso zu scheitern, wie sonst Unternehmen scheitern, die auf die falsche Zukunft gesetzt haben.
„Chinesische Wirtschaftsplaner scheinen sich stärker für Künstliche Intelligenz als Werkzeug für industrielle Prozesse zu interessieren als als Mittel zur Schaffung einer Superintelligenz, die die Singularität erreicht.“ Tim Wu in der Financial Times
Die USA verarmen bereits
Die Ausgaben für KI-Rechenzentren herausgerechnet, schrumpft die US-Wirtschaft seit dem Amtsantritt Donald Trumps. Im Land suchen so viele Menschen Arbeit wie seit der Corona-Pandemie nicht mehr. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass in den USA einige Firmen wie wild Rechenzentren bauen, sonst wirtschaftlich aber wenig passiert.
Erweist sich Künstliche Intelligenz doch nicht als Heilsbringer, machen KI-Firmen doch nie Gewinne oder bleiben die Anwendungsmöglichkeiten von KI deutlich begrenzter als erwartet, verspielen nicht nur einige Firmen ihre Zukunft, sondern die gesamten Vereinigten Staaten.
Die Folgen wären katastrophal:
- Scheitert ein Unternehmen, leiden darunter einige Angestellte und Unternehmer ein wenig. Ihnen bleiben Jobchancen bei anderen Firmen und staatliche Absicherung.
- Scheitert ein Staat, leiden darunter alle Bürger massiv. Viele Angestellte verlieren ihre Jobs. Sie verlieren zumindest teils auch ihre Rente, Krankenversicherung und soziale Absicherung. Für Schulen, Straßenbau und Militär fehlt das Geld, wie man es sonst nur aus anderen gescheiterten Staaten kennt.
Unternehmen sollen früher oder später scheitern und Besserem weichen. Staaten und die Wirtschaft insgesamt müssen vor allem überleben. Ein paar Prozent Wachstum sind es nicht wert, dafür alles zu verspielen.
Populisten neigen aber dazu, alles zu verspielen.
Populisten setzen alles auf eine Karte
Niemand kann die Zukunft sicher vorhersagen. Die Zukunftsvisionen der 1950er Jahre – fliegende Autos, das Mittagsessen als Pille, Atomreaktoren in jedem Haushalt – an der Realität zerschellten, sollten wir uns auch heutiger Zukunftsvisionen nicht zu sicher sein. Selbst die wahrscheinlichste tritt bestenfalls in zehn Prozent der Fälle ein, wahrscheinlich noch seltener. Mit mindestens 90 Prozent Wahrscheinlichkeit scheitern die, die alles auf sie setzen.
Selbst wenn die USA mit ihrem All-In auf Künstliche Intelligenz richtig liegen, liegt eine Regierung, die All-In geht, in mindestens neun von zehn Fällen falsch. Dadurch ruiniert sie ihre Bürger.
Das Problem der Vereinigten Staaten liegt also weniger darin, dass sie alles auf KI setzen. Ihr Problem liegt darin, dass sie überhaupt alles setzen.
Kluge Politiker bilden ein Gegengewicht zur Risikobereitschaft der Industrie statt sie zu treiben. Sie sorgen dafür, dass ihr Land auch erblüht, wenn Plan A scheitert.
Dazu müssen sich Politiker ein Gefühl der Unsicherheit bewahren. Sie dürfen sich nie zu sicher sein, wie sich die Zukunft entwickelt. Nur dann können sie ihre Wetten streuen.
Populisten sind sich sicher. Sie verkaufen ein klares Schwarz-Weiß-Weltbild ohne Raum für Grauzonen. Botschaften wie das KI-Wettrennen passen Populisten ins Muster. Deswegen übernehmen sie diese. Populismus und armutschaffende Wirtschaftspolitik bilden zwei Seiten der gleichen Medaille.
Wer nicht verarmen will, sollte keine Populisten wählen.
Die Bundesregierung handelt vernünftig
Bundesregierung und europäische Politiker handeln richtig, wenn sie im Gegensatz zu den USA nicht die gesamte Wirtschaft auf den Erfolg Künstlicher Intelligenz verwetten. Enttäuscht KI die fast religiösen Erwartungen ihrer Anhänger, bleiben Deutschland und EU andere Optionen.
Gründe, an den KI-Hoffnungen zu zweifeln, gibt es zur Genüge:
1. Die Industrie braucht eher Zuverlässigkeit als Alleskönner
Womöglich brauchen Firmen eher spezialisierte KIs, mit genauen Daten trainiert, die verlässliche Ergebnisse erzeugen, als vermeintliche Alleskönner, die oft genug Absurdes als große Sicherheiten ausgeben. Womöglich werden kluge Lieferketten-KIs bedeutender als künstliche Freunde oder KI-Sportcoaches. Deutsche Firmen wie SAP forschen in diese Richtung.
„Ein deutscher Autohersteller benötigt keinen Chatbot, der mit dem gesamten Internet trainiert wurde“, schreibt Marietje Schaake in der Financial Times. „Er profitiert von KI-Systemen, die mit hochwertigen Ingenieursdaten trainiert sind, um Produktionsprozesse zu optimieren, Wartungsbedarfe vorherzusagen oder Sicherheitsberichte zu vereinfachen.“ Ein niederländisches Krankenhaus brauche Diagnosewerkzeuge, die medizinischen Standards entsprechen – keine Allzwecksysteme, die medizinische Fehlinformationen erzeugen könnten. Und eine französische Bank benötige KI, die Effizienzgewinne ermöglicht und zugleich strenge Vorgaben der Finanzaufsicht einhält.

Große Versprechen und viel Druck: "Wir glauben, dass Künstliche Intelligenz unsere Alchemie ist, unser Stein der Weisen", schreibt der einflussreiche Investor und Trump-Berater Marc Andreessen in The Techno-Optimist Manifesto. "Wir glauben, dass jede Verlangsamung der KI-Entwicklung Menschenleben kostet. Todesfälle, die durch eine KI hätten verhindert werden können, deren Existenz jedoch verhindert wurde, sind eine Form von Mord." Mega-Investitionen in KI ergeben nur Sinn, wenn sich diese fast religiöse Erwartung bewahrheitet. Foto: JD Lasica - https://www.flickr.com/photos/jdlasica/10082059294/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89247917.
2. Optimistischer Zeitplan
Spezialisierte KIs könnte wohl auch Deutschlands Superrechner Jupiter trainieren. Die Mega-Rechenzentren der USA braucht nur, wer wirklich jede Webseite durchfrosten will, um ein digitales, selbst denkendes Gehirn zu schaffen, die sogenannte Singularität.
Die Techbosse sagen deren Entwicklung in den kommenden Jahren vorher. Sie hoffen, die KI-Entwicklung beschleunige sich selbst immer weiter.
Bislang verlangsamte sich technologische Entwicklung aber nach einem Durchbruch immer:
- Das iPhone veränderte die Welt, verbesserte sich danach aber eher langsam von Jahr zu Jahr.
- Autos fahren heute bequemer und sicherer als vor 100 Jahren, erledigen aber die gleiche Aufgabe. Das Fliegen lernten sie nie.
- Astronauten erreichten Anfang der 1960er Jahre erstmals die Erdumlaufbahn und bereits Ende der 1960er Jahre erstmals den Mond. Sie enttäuschten aber alle Hoffnungen in den 1980er Jahren den Mars zu erreichen.
Womöglich dauert es Jahrhunderte, bevor ein Computer wirklich wie ein Mensch denkt. Falls sie je gelingt. Wie sollen die USA bis dahin überleben, wenn sie alles auf Rechenzentren setzen, deren Chips binnen weniger Jahre veralten und wertlos werden?
3. Fragwürdige Propheten
Elon Musk, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos haben erfolgreiche Firmen aufgebaut. Warum trauen wir aber gerade ihnen zu, die Zukunft der Welt zu kennen? Weil sie als Inhaber Sozialer Medien die Macht besitzen, sich Superkräfte anzudichten? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass ihre Fähigkeiten mit ihren Jobs als CEOs genauso enden wie die Fähigkeiten eines visionären Fußballtrainers am Spielfeldrand?
Ist es nicht wahrscheinlicher, dass sich die Clique aus dem Silicon Valley in etwas hineingesteigert hat? Dass sie sich überschätzt? Dass sie die Zukunft der Wirtschaft genauso schlecht vorhersagt, wie sie nach dem Amtsantritt Trumps mit DOGE die US-Verwaltung modernisierte?
Bedacht statt Übermut
All dies schließt nicht aus, dass KI-Optimisten recht behalten. Womöglich löst diese binnen weniger Jahre tatsächlich alle Probleme. Womöglich regieren ihre Inhaber dann tatsächlich die Welt, weil sie tatsächlich jedes Produkt besser und günstiger bauen als alle anderen Firmen.
Die Menschen in Deutschland können aber froh sein, dass die USA ihre Zukunft auf diesen unwahrscheinlichen Fall verwetten und nicht die Bundesrepublik. Die Regierungen Merz und Scholz handelten vernünftiger, indem sie mit Bedacht KI-Infrastruktur aufbauen.




