Nach der Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten ist Thomas Kemmerich in einer hoffnungslosen Lage. Er wurde mit Stimmen der AfD gewählt, kann ohne sie nicht regieren. Wie er seine Wahl dennoch rechtfertigen will, zeigt, wie Politiker lügen.
Es ist der Abend des 5. Februar 2020 und Thomas Kemmerich hat ein Problem. Am Nachmittag wurde der FDP-Politiker mit der markanten Glatze vom Thüringer Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt. Im dritten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit zum Wahlsieg reicht, durchkreuzte er mit den Stimmen von CDU und AfD überraschend den Plan von Linken, SPD und Grünen, Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten wiederzuwählen.[1] Nun ist er der erste Ministerpräsident von Gnaden der AfD – und das in Thüringen, wo die AfD um ihren Vorsitzenden Björn Höcke besonders weit am rechten Rand liegt.
Aber Kemmerich hat größere Probleme als die AfD: Seine FDP-Fraktion hat den Einzug in den Landtag mit gerade einmal 73 Stimmen mehr als die nötige Fünf-Prozent-Hürde geschafft. Sie hat fünf Sitze von 90 – weniger geht nicht im Thüringer Landtag. Aus dieser Position eine stabile Regierung zu bilden, ist unmöglich. Wenn Kemmerich regieren will, bleiben ihm nur vier Parteimitglieder, um Ministerposten zu besetzen. Die letzte Regierung hatte aber neun Minister. Kemmerich müsste also mehr als die Hälfte der Posten an Mitglieder anderer Parteien vergeben. Er wäre der Juniorpartner in seiner eigenen Regierung. Wahrscheinlich sogar der Mini-Juniorpartner. Er könnte nur mit der CDU koalieren. Eine Kooperation mit der AfD hat er immer ausgeschlossen, Linke, SPD und Grüne wollen nach seinem Coup nichts von ihm wissen. Die CDU hat aber 21 Sitze, ist deutlich mächtiger als Kemmerichs FDP. Sie könnte ihm wahrscheinlich viel mehr Ministerposten abtrotzen, ihm ihr Programm fast nach Belieben aufzwingen. Im besten Fall wäre Kemmerich ein FDP-Ministerpräsident, der mit CDU-Politikern CDU-Ziele umsetzt. Im schlechtesten Fall wäre er nicht einmal das.
Selbst im Verbund mit der CDU hätte Kemmerich nur 26 der 90 Sitze im Parlament – 20 weniger als eine Mehrheit. Das kann er eine Minderheitsregierung nennen, aber es wäre eher eine Randgruppe. Koalitionen, denen ein, zwei Prozent zur Mehrheit fehlen, können unter Umständen regieren. Aber eine Koalition, die für eine Mehrheit die Linke oder die AfD überzeugen muss, weil es selbst mit SPD und Grünen zusammen nicht zur Mehrheit reichen würde, ist ein Himmelfahrtskommando – zumal Kemmerich die Zusammenarbeit mit AfD und Linken ausschließt. Den besten Beweis für die Unmöglichkeit dieser Aussage erbringt Kemmerich kurz nach seiner Wahl: Selbst um die Sitzung zu verschieben, braucht er die Stimmen der AfD.
Es ist ein Desaster. AfD-Unterstützung hin oder her, Kemmerich kann Thüringen nicht regieren. Das weiß er wahrscheinlich auch selbst. Trotzdem würde er es gerne tun. Er hat Erfahrung, saß schon im Bundestag. Er ist intelligent, charismatisch, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ihm ist schon vieles gelungen, und wahrscheinlich denkt er: „Gebt mir eine Chance, dann gelingt mir auch das.“
Er weiß wahrscheinlich auch, dass es ihm gelingen muss. Die FDP hat es mit größter Not überhaupt in den Landtag geschafft. Wirft er die Stimmen seiner Wähler jetzt mit einem Himmelfahrtskommando weg, wäre deren Enttäuschung wohl so groß, dass seine Partei bei der nächsten Wahl wahrscheinlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Vielleicht wäre es ihr Ende in Thüringen, vom bundesweiten Schaden ganz zu schweigen. Das Ende Kemmerichs als hochrangiger Politiker wäre es sowieso.
In dieser misslichen Lage stellt sich Kemmerich nun jemand in den Weg, den er an diesem Abend am wenigsten gebrauchen kann: Marietta Slomka, Moderatorin des heute-Journals im ZDF und erstklassige Journalistin. Kurz nach 22 Uhr will sie von Kemmerich wissen, was er sich bei seinem Griff nach der Macht gedacht hat. Kemmerich hat zu diesem Zeitpunkt bereits erklärt, Ministerpräsident bleiben zu wollen. Seine ersten Termine im Amt stehen schon am nächsten Tag an. Nun muss er Slomka vor einem Millionenpublikum davon überzeugen, dass das eine gute Idee ist – obwohl beide wissen, dass das Gegenteil stimmt.
Kemmerich muss also lügen. Slomka wird er damit kaum überzeugen, das weiß er wohl, aber vielleicht einige Fernsehzuschauer. Wie Kemmerich das versucht, und wie Slomka ihn daran hintern will, ist ein Musterbeispiel für guten Journalismus. Es zeigt, mit welchen Strategien Politiker lügen und wie ihre Zuhörer diese erkennen können.
Das Interview Slomkas mit Kemmerich zeigt, wie Politiker lügen
Slomka beginnt mit dem wichtigsten Punkt. Sie sagt Kemmerich, dass auch führende FDP-Politiker seine Wahl für einen großen Fehler halten und möglichst schnelle Neuwahlen fordern. Sie will wissen: „Haben Sie das vor?“
Jetzt gilt es für Kemmerich. Er muss Slomka irgendwie verkaufen, dass es trotz aller Schwierigkeiten wichtig ist, wenn er Ministerpräsident bleibt. Wie kann er das, wenn es so offensichtlich nicht stimmt? Kemmerich macht, im Rahmen seiner Möglichkeiten, alles richtig. Er sagt:
„Nein. Ich denke wir stehen am Ende eines sehr bewegten Tages. Es ist viel Aufregung, wir sollten aber bei den Fakten bleiben.“
Der Appell, bitte bei den Fakten zu bleiben, ist eine gut klingende Floskel. Kemmerich weiß: Alle Zuschauer an den Fernsehern wollen bei den Fakten bleiben. Mit diesem Satz kann er sie auf seine Seite ziehen, ohne inhaltlich etwas zu sagen. Er stellt die Angriffe gegen sich als faktisch falsch hin, ohne das direkt auszusprechen. Wie wir noch sehen werden, sind gut klingende Floskeln ein beliebtes Instrument von Politikern, die lügen. Mit ihnen wollen Sie Menschen schlechte Dinge gut verpacken. Diese sollen so von den Floskeln geblendet sein, dass sie übersehen, worum es eigentlich geht. Kemmerich kann nicht regieren, egal wie er es auch dreht. Um davon abzulenken spricht er von „Fakten“ und einem „sehr bewegten Tag“. Das bedeutet nichts, aber es soll staatsmännisch klingen.
Kemmerich macht weiter:
„Ich bin als Kandidat angetreten gegen einen Kandidaten der Linken und der Rechten, als Angebot der demokratischen Mitte.“
Ein Feindbild. Kemmerich argumentiert, weil die bösen Linken und Rechten Kandidaten gestellt haben, sei ihm als rechtschaffendem Bürger nichts anderes übriggeblieben, als auch zu kandidieren. Sinngemäß übersetzt bedeutet das: „Was ich getan habe, war schlecht für Thüringen. Aber es war besser als die Alternativen.“ Auch Feindbilder sind eine beliebte Technik von Politikern, zu lügen. Sie helfen, die eigenen Handlungen als gut und richtig zu präsentieren, indem sie einer absolut falschen oder gefährlichen Alternative gegenübergestellt werden. In Wahrheit sind die Alternativen allerdings selten so gefährlich, wie sie dargestellt werden, und die eigenen Handlungen selten so gut, wie sie im Vergleich wirken.
Beispiel Kemmerich: Es stimmt, weil er gewählt wurde, wurden weder der Kandidat der Linken noch der AfD gewählt. Doch was hat er damit erreicht? Alle Analysten sind sich bereits zu diesem Zeitpunkt einig, dass sich seine verbleibende Amtszeit eher in Stunden als in Wochen oder Monaten rechnen lässt. Sein Bundesparteivorsitzender Christian Linder eilt gerade aus Berlin nach Erfurt, um Kemmerich den Rücktritt nahezulegen. Seine Zeit ist um. Und was kommt danach? Eine baldige Neuwahl, bei der die FDP sehr wahrscheinlich aus dem Parlament fällt? Das würde bedeuten, dass die Rot-Rot-Grüne Koalition doch die Mehrheit bekommt.
Indem sich Kemmerich selbst geschwächt hat, hat er die Linke gestärkt. Daran gibt es nichts schönzureden. Und die AfD? Auch die wäre stärker, wenn die FDP verliert. Sie bliebe als einzige konservative Option neben der CDU. Den bösen Linken und Rechten, deren Ministerpräsidenten Kemmerich angeblich verhindern wollte, hat Kemmerich also in die Karten gespielt. Sein Feindbild ist gelogen.
Kemmerich macht weiter.
„In einer freien und geheimen Wahl ist die Mehrheit auf meine Person gefallen. Das ist ein Auftrag an mich, eine Regierung zu bilden.“
Wieder: gut klingende Floskeln.
„In Gesprächen mit CDU, SPD und Grünen werden wir das in den nächsten Tagen auf den Weg bringen.“
Eine direkte Lüge. SPD und Grüne wollen nach Kemmerichs Manöver nichts von ihm wissen. Selbst wenn das anders wäre: Die SPD hat acht Sitze im Thüringer Landtag, die Grünen fünf. Mit CDU und FPD macht das 36 von 90. Kemmerich müsste also als Junior-Partner einer Koalition vier Parteien unter einen Hut bringen – und hätte trotzdem noch lange keine Mehrheit. Wenn er so tut, als könne er ohne AfD und Linke eine Regierung der bürgerlichen Mitte bilden, dann lügt er. Daran führt kein Weg vorbei.
„Der Auftrag an das Parlament, in dem die Thüringer Bürger und Bürgerinnen uns gewählt haben Ende Oktober, ist gute Politik für das Land Thüringen zu machen.“
Noch eine gut klingende Floskel, die nichts bedeutet.
„Und ich wiederhole es ausdrücklich: nicht mit Unterstützung der AfD. Wenn die AfD meint, sich mit ihrem taktischen Manöver einen Vorteil verschafft zu haben, dann irrt sie. Es wird kein Jota von AfD-Politik unter einem Ministerpräsidenten Kemmerich geben.“
Das geht nicht. Bis jetzt hat Slomka Kemmerich reden lassen. Nun legt sie den Finger in die Wunde:
„Aber Sie werden auf die AfD immer wieder angewiesen sein. Sie haben ansonsten keine Mehrheit. Sie waren ja sogar heute schon direkt nach der Wahl zum Ministerpräsidenten erneut auf die AfD angewiesen. Sonst hätte sich die Landtagssitzung nicht vertagen lassen.“
Das hat gesessen. Kemmerich kann ohne die AfD nicht einmal einen Terminplan aufstellen. Wie will er dann gute Politik machen? Er antwortet wieder mit gut klingenden Floskeln:
„Ich werde keine Politik machen, die abhängig ist von der AfD. Wie die AfD abstimmt, können wir nicht beeinflussen. Sie diskreditiert damit die gesamte Politik. Wir werden Mehrheiten suchen im Parlament, in der Verantwortung aller Politiker, die seit dem Wahlabend im Oktober betonen, staatsmännische Verantwortung tragen zu wollen. Wir werden Mehrheiten suchen mit denjenigen, die sich dieser Verantwortung stellen, für Thüringen.“
„Mehrheiten suchen“, „staatspolitische Verantwortung“, „für Thüringen“. Wieder eine Reihe gut klingender Flokeln. Kemmerich spricht ruhig, wirkt gefasst. Was er sagt, klingt staatsmännisch. Aber die Frage hat er nicht beantwortet.
Slomka fährt ihm dazwischen:
„Die staatspolitische Verantwortung lag jetzt erst mal bei Ihnen, in diesem dritten Wahlgang anzutreten. Ahnten Sie denn nicht, was da auf Sie zukommen würde? Nämlich, dass die AfD diese Gelegenheit nutzt. Davor gab es ja auch ausdrückliche Warnungen.“
Eine harte Frage. Und sie verleitet Kemmerich zu seinem ersten Fehler. Bisher hat er sich hinter Floskeln und Feindbildern versteckt. Aber jetzt gibt er versehentlich zu, was er bis hierhin konsequent abgestritten hatte. Kemmerich sagt:
„Wir haben sehr detailliert in den Parteigremien besprochen diese Kandidatur gegen Kandidaturen von Links und Rechts der demokratischen Mitte anzubieten. Wir mussten damit rechnen, dass dieses passiert.“
Im ersten Satz bedient Kemmerich wieder das Feindbild, dass er bereits bemüht hatte. „Gegen Kandidaturen von Links und Rechts“ – wer dieses Feindbild teilt, wird ihm seine Botschaft glauben. Doch im zweiten Satz verspricht er sich. Er „musste damit rechnen, dass dieses passiert“? Ihm war also klar, dass ihn die AfD wählen würde? Genau das hatte er bisher immer abgestritten. Noch eine Frage vorher hatte er gesagt, er könne nicht beeinflussen, wie die AfD abstimme. Zwei Fragen vorher hatte er von einem „taktischen Manöver“ der AfD gesprochen. Und jetzt will ihm auf einmal klar gewesen sein, dass er gewählt werde? Er, der nicht regieren kann? Und das hat er geschehen lassen? Das sieht schlecht aus.
Dieser Versprecher ist der Super-GAU und Kemmerich weiß es. Er spricht schnell weiter, greift auf einmal an:
„Wir werden jetzt eine Politik machen, kontra AfD auch gegen linke radikalistische Forderungen, Enteignungsfantasien.“
Kemmerich wirkt hektisch. Er nennt keine konkreten Kritikpunkte, ihm fehlt jeder inhaltliche Grund, warum er auf einmal von „Enteignungsfantasien“ spricht. Er ist getroffen, er taumelt, davon will er mit zwei Feindbildern ablenken. Er will seine Wähler erinnern, wie schlimm es denn gekommen wäre, wenn die anderen gewonnen hätten. So tun, als habe er sie vor einer großen Bedrohung beschützt. Dass das nicht stimmt, haben wir bereits geklärt. Aber dass Kemmerich im Moment seiner größten Krise zu seinen härtesten Feindbildern greift, zeigt wie Politiker in solchen Situationen denken: Kemmerich braucht einen schnellen Erfolg, hat inhaltlich in dieser Situation aber wenig zu bieten. Also setzt er auf das Feindbild, um abzulenken.
Slomka durchschaut das sofort. Sie hakt an der entscheidenden Stelle nach:
„Habe ich Sie richtig verstanden? Sie haben damit gerechnet, dass das passiert? Das heißt, sie waren nicht überrascht. Deshalb hatten sie ja auch schon eine Rede vorbereitet.“
Kemmerich zieht die Augenbrauen hoch. Er wirkt genervt, braucht jetzt einen Erfolg. Wie versucht er das? Natürlich, mit gutklingend Floskeln. Er erinnert wieder daran, in einer demokratischen Wahl mit Mehrheit gewählt worden zu sein. Auch das erklärt nichts.
So geht das eine Weile weiter. Interessant wird es wieder, als Slomka Kemmerich darauf anspricht, dass viele in seiner Partei seine Wahl „nicht ertragen“ könnten. „Man lässt sich nicht von AfD-Faschisten wählen“, hatte der Vize-Vorsitzende der FDP, Alexander Graf Lambsdorff, getwittert. „Wenn es doch passiert, nimmt man die Wahl nicht an.“ Warum habe Kemmerich das nicht gemacht, will Slomka wissen.
Das ist der entscheidende Punkt. Kemmerich war nach seiner Wahl aufgestanden, ruhig und gefasst, ohne Zeichen von Überraschung. Er hatte gesagt: „Ich nehme die Wahl an.“ Wieso diese überlegte, kalkulierte Reaktion, wenn er nicht gewusst haben will, dass ihn die AfD wählen würde? Wieso waren ihm in diesem Moment alle Gründe, die gegen einen Ministerpräsidenten der kleinsten Partei mit Unterstützung eines Faschisten sprechen, egal? Wenn es dafür eine gute Erklärung gibt, muss Kemmerich sie jetzt bringen. Er könnte auch sagen, dass er das in der Überraschung einfach noch nicht durchdacht hatte. Dass er da in etwas hineingerutscht war und einfach nur sein Bestes versucht hat. Aber er muss erklären, was passiert ist.
Kemmerich tut nichts dergleichen. Er lügt. Das merkt man daran, was er sagt und wie er es sagt. Er ignoriert die Frage und antwortet wieder mit einem Feindbild:
„Frau Slomka, wissen Sie, die Regierung Ramelow hat sich über Jahre getragen durch einen Übergänger von der AfD. Heute Morgen entfielen noch zwei weitere Stimmen auf die Regierung Rot-Rot-Grün unter der Kandidatur von Herrn Ramelow. Ich glaube auch nicht, dass Herr Ramelow abgelehnt [hätte].“
Soll bedeuten: „Der böse Andere hat angefangen.“ Mit dieser Argumentation würde schon ein Neunjähriger bei seiner Lehrerin scheitern. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich“, würde die ihm sagen. Bei Kemmerich ist die Situation noch schlimmer. Er ignoriert, dass Ramelow der stärksten Fraktion angehört, dass seiner Koalition nur eine Stimme zur Mehrheit fehlt. So zu tun, als wären Ramelow und Kemmerich in der gleichen Situation, ist gelogen.
Kemmerich spricht schnell weiter, bevor Slomka einhakt:
„Wir müssen jetzt da die Fakten wirken lassen. Und die Verantwortung für dieses Land ist groß.“
Wieder eine gut klingende Floskel. Davon hat Kemmerich mehr zu bieten:
„Ich merke gerade auch an dem Tag heute, wie aufgepeitscht die Stimmung ist. Welche Anfeindungen ich aushalten muss. Welche Anfeindungen auch die Leute aushalten müssen, die das unterstützt haben. Ich möchte das Land in der Mitte wieder versöhnen und zusammenführen.“
Wieder: Das stimmt alles. Aber Kemmerich beantwortet die Frage nicht. Er versucht mit gut klingenden Floskeln über die offensichtlichen Kritikpunkte hinwegzutäuschen. Die Aufregung hat er selbst versursacht. Das Land in der Mitte zusammenführen wollen viele. Es ist ein ehrenwertes Ziel. Aber Kemmerich ist ein Ministerpräsident mit fünf Stimmchen, der eine Koalition aus Parteien anstrebt, die nur rund ein Viertel der Thüringer gewählt hat. Er kann sein Ziel nicht erreichen.
Daran erinnert ihn auch Slomka. Sie fragt: „Haben Sie den Eindruck, Sie verkörpern den Wählerwillen?“ Die Frage trifft das Herz des Problems. Kemmerich versucht also abzulenken – wieder mit gut klingenden Floskeln. Er sagt, jeder der Abgeordneten habe gleiche Rechte, sei gleich stark und gleich verantwortlich für die Demokratie. Auch in anderen Ländern gebe es Minderheitsregierungen. Außerdem erwähnt er die demokratische Mitte, so oft er kann.
Wie stark Kemmerich damit versucht, den Zuschauern etwas unterschieben, zeigen zwei Aspekte:
- Kemmerichs, der angebliche Ministerpräsident der demokratischen Mitte, erhielt sehr wahrscheinlich 22 seiner 45 Stimmen – also fast die Hälfte – von der AfD, deren Landesvorsitzender ein Faschist ist. Von einer demokratischen Mitte zu reden, mag gut klingen. Aber Kemmerich verkörpert sie nicht. Kemmerich will sein Problem hinter einer Floskel verstecken.
- Kemmerich sagt den Satz: „Das ist Demokratie. Das Parlament ist der Souverän.“ Das mag gut klingen und beim flüchtigen Zuhören seine Wahl scheinbar rechtfertigen. Doch es ist eine Lüge: Schon das Wort Demokratie bedeutet „Volksherrschaft“. Das Volk ist der Souverän, nicht das Parlament. Das Volk hat Kemmerich aber nicht gewählt. Es hat ihm nur fünf Prozent der Stimmen gegeben. Jetzt will er regieren? Das hat nichts mit Demokratie zu tun. Kemmerich setzt die Floskel ein, um den Menschen etwas unterzuschieben.
Wer die Techniken kennt, kann politische Lügen erkennen
Situationen wie das Interview Kemmerichs sind für Bürger in einer Demokratie entscheidend – und schwierig. In Erfurt war passiert, was vorher niemand für möglich gehalten hatte. Die meisten Menschen sahen darin ein wegweisendes Ereignis für die Zukunft ganz Deutschlands. Sie wollten wissen, was da passiert war. Haben CDU und FDP mit der AfD kooperiert? Wird das in Zukunft alltäglich? Von diesen Fragen hingen Wahlentscheidungen ab, von Berlin bis München.
Das Problem daran: Mit Kemmerich stand ein Politiker im Mittelpunkt der Kontroverse, von dem vorher kaum jemand gehört hatte. Selbst in Thüringen hatten viele Menschen nur Plakate von ihm gesehen. Er war eine Randfigur. Niemand wusste, ob er überhaupt ins Parlament einzieht. Ein Gefühl für den Menschen Kemmerich hatten nur wenige.
Für viele dieser Menschen war an diesem 5. Februar, an dem Kemmerich Ministerpräsident wurde, das Interview Slomkas die erste Gelegenheit, die Lage in Thüringen zu verstehen. In sieben Minuten mussten sie entscheiden, ob mit Kemmerich ein ehrlicher Politiker unglücklich in etwas hineingerutscht war, ob ein eiskalter Machtpolitiker ohne Rücksicht auf Verluste nach der Macht strebt oder ob die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt.
Die Schwierigkeit dabei: Dass Kemmerich sagen würde, er wolle nur das Beste für Thüringen, war klar. Die entscheidende Frage war: Können ihm die Zuschauer das glauben? Das ist deutlich schwerer zu beantworten. Es reicht nicht, die Aussagen zu unterstützen oder abzulehnen. Die Zuschauer müssen Wahrheiten von Lügen trennen und hinter die Fassade blicken. Erst dann können sie sich eine Meinung bilden. Kemmerich erschwert ihnen das, indem er scheinbare Fakten in den Raum wirft. Das Parlament sei der Souverän. Minderheitsregierungen, die von kleinen Partnern geführt werden, seien in Europa völlig normal. Wer nicht mit den Regierungskoalitionen in allen 27 Mitgliedsstaaten der EU und deren Erfolgsbilanzen vertraut ist, kann diese Aussage kaum überprüfen. Schon gar nicht bei voller Geschwindigkeit in einem Live-Interview, abends nach einem stressigen Tag. Wäre es also ein Wunder, wenn die Zuschauer aufgeben? Wenn sie beschließen, dass sie Kemmerichs Aussagen einfach nicht beurteilen können? Wenn Sie annehmen, dass „die da oben“ ohnehin machen, was sie wollen, und Außenstehende nie wissen können, wem sie trauen sollen?
Wer so denkt, vergisst, dass Slomka an diesem Abend im gleichen Dilemma steckt – und es meistert. Bedenken wir ihre Situation: Slomka hat unbestritten ein breites Fachwissen. Gäben wir ihr zehn Minuten Zeit, sie könnte wahrscheinlich alle 27 Regierungschefs der EU aufzählen. Vielleicht fiele ihr sogar noch ein, wer koaliert und wer alleine regiert, wer eine stabile Mehrheit hat und wer nicht. Im Interview hat Slomka diese Zeit aber nicht. Sie muss alle Aussagen Kemmerichs in einem Sekundenbruchteil beurteilen. Wartet sie länger, ist Kemmerich schon beim nächsten Punkt. Slomka muss sofort entscheiden, ob sie einhakt oder nicht, ob sie nachfragt oder das Gesagte stehen lässt.
Dazu braucht sie Fakten, klar. Sie muss wissen, wovon sie redet. Aber sie kann unmöglich alle Fakten sofort parat haben. Kemmerich könnte ihr alles hinknallen. Er könnte Geschichten aus dem Italien des Jahres 1983 oder aus dem England zwischen den Weltkriegen erzählen. Er könnte Regierungen vom Balkan zitieren oder aus Lateinamerika und aus alledem ableiten, dass er unbedingt Ministerpräsident bleiben muss. Das Feld ist riesig und Kemmerich hat freie Auswahl. Um alleine mit Fakten mitzuhalten, müsste Slomka alles zu allem wissen. Das ist unmöglich.
Slomka braucht also ein zweites Standbein. Egal was Kemmerich sagt, sie muss es einordnen können. Das kann sie, indem sie nicht nur darauf achtet was Kemmerich sagt, sondern auch darauf, wie er es sagt. Das machen wir alle im Alltag, wenn wir mit unseren Kindern reden oder mit unseren Freunden. Slomka hat die gleiche Erfahrung im Umgang mit Politikern. Die wendet sie an.
Das beste Beispiel dafür sind die angeblich erfolgreichen Minderheitsregierungen in Europa, die von kleinen Partnern geführt werden, die Kemmerich anspricht. In dieser Situation muss Slomka aufpassen. Erlaubt sie es Kemmerich, sie auf ein Feld zu führen, auf das sie sich wahrscheinlich nicht gezielt vorbereitet hat, wird es gefährlich. Was, wenn Kemmerichs Berater tatsächlich irgendwo ein Beispiel für einen Fünf-Prozent-Ministerpräsidenten ausgekramt haben, der gut regiert hat? Das würde an Kemmerichs Situation zwar nichts ändern. Es überleben jeden Tag Menschen Autounfälle, aber das heißt nicht, dass wir gezielt welche verursachen sollten. Auch Kemmerichs Regierung bliebe eine schlechte Idee. Aber Kemmerich könnte Slomka unwissend aussehen lassen. Schlimmstenfalls sagt sie: „Das gab es noch nie.“ Doch Kemmerich hat recherchieren lassen, dass es das eben doch schon gab. Dann wäre Slomka die böse, ahnungslose Journalistin und Kemmerich das arme Opfer. Dann hätte er gewonnen, obwohl er Unrecht hat. Das ist die Gefahr, der sich jeder Journalist in Interviews stellt.
Slomka weiß damit umzugehen. Sie meidet die inhaltliche Debatte. Sie weiß, daran hat Kemmerich sowieso kein Interesse. Er will nur eine gut klingende Floskel platzieren. Das lässt sie ihm nicht durchgehen. Sie unterbricht ihn: „Naja, der kleinere Partner, aber die kleinste Partei ist dann doch schon ungewöhnlich.“ Danach versucht sie sofort, dass Thema zu wechseln. „Sie sind ja auch im Wahlkampf nie als…“
Jetzt unterbricht Kemmerich Slomka. Er versucht es noch einmal. „Nö, das ist auch schon passiert mit dem kleinsten Partner.“
Slomka kontert wieder: „Aber nicht hier in Deutschland.“
Slomka kann nicht ausschließen, dass Kemmerich Recht hat. Sie kann unmöglich alle Regierungen der europäischen Geschichte kennen und es wäre unprofessionell, wenn sie dennoch so tut, als könnte sie es. Sie weiß aber: Was Kemmerich sagt, ist unwichtig. Es soll nur gut klingen. Das reicht ihr, um seine Aussage einzuordnen. Sie merkt schon daran, wie er es sagt, dass er ihren Zuschauern etwas unterschieben will. Deswegen lässt sie sich nichts vormachen.
Diese Fähigkeit ist erlernbar. Wer zwei Techniken kennt, Feindbilder und gut klingende Allgemeinplätze, merkt, dass Kemmerich etwas zu verbergen hat – selbst, wenn er ihn noch nie gesehen hat und sich nicht für Politik in Thüringen interessiert. Für die Millionen Menschen, die das Interview Kemmerichs mit Slomka sehen, wäre das eine wichtige Information. Sie könnten Kemmerich ohne stundenlange Recherche einschätzen – und müssten sich nicht als überforderte Außenseiter des politischen Spiels fühlen. Deswegen ist es wichtig, diese Techniken zu vermitteln. Sie funktionieren nicht nur bei Kemmerich.
CSU-Vorsitzender Mike Mohring
Am gleichen 5. Februar, an dem sich Kemmerich im ZDF rechtfertigen muss, steht auch Mike Mohring vor einem Problem. Der Vorsitzende der Thüringer CDU hat Kemmerich mit seiner Fraktion ins Amt gewählt. Er hat ihn in einen aussichtslosen Kampf geschickt, wohlwissend, dass die AfD die Kandidatur ausnutzen könnte. Er hat ohne jeden Vorteil für seine Partei der AfD die Bühne bereitet. Damit könnte er der Thüringer CDU dauerhaft geschadet haben, seiner eigenen Karriere sowieso. Diese verfahrene Situation muss er irgendwie als Geniestreich verkaufen, als er durch eine Tür im Thüringer Landtag vor die Presse tritt. Wie macht er das? Natürlich mit Feindbildern und Floskeln. Mohring sagt:
„Wenn zwei Kandidaten zur Auswahl stehen, von der AfD und von der Linkspartei, und es gibt ein Angebot aus der Mitte, dann ist es doch wohl folgerichtig, dass die CDU, die sich als Partei der Mitte sieht, auch diesen Mittekandidaten unterstützt.“
Das klingt logisch. Aber jetzt wissen wir, worauf wir achten müssen. Mohring sagt, seine Fraktion konnte auf keinen Fall die Kandidaten der Linken und der AfD wählen – das ist ein Feindbild. Die Mitte sei gut, die CDU sei eine Partei der Mitte, also habe sie sich mit Kemmerich „folgerichtig“ für den Kandidaten der Mitte entschieden. Das ist eine gut klingende Floskel – es klingt logisch, aber es lässt offen, warum mit Kemmerich ein Kandidat der kleinsten Partei im Landtag antrat. Was sprach gegen einen CDU-Kandidaten? Was gegen Mohring selbst? Und, wenn CDU und FDP sicher sein wollten, nicht mit Stimmen der AfD gewählt zu werden, warum haben sich nicht einfach drei CDU-Abgeordnete enthalten? Dann hätte es für ihren Kandidaten selbst mit AfD-Stimmen nicht zum Sieg gereicht. Dann hätten sie die AfD vorgeführt, statt selbst vorgeführt zu werden.
Mohring hat Mist gebaut. Warum, weiß er nur selbst. Vielleicht wollte er später sagen können: „Wir haben gegen Ramelow gestimmt.“ Vielleicht brauchte er deswegen einen Gegenkandidaten. Vielleicht wollte er sich selbst eine aussichtslose Wahl ersparen und hat deswegen Kemmerich vorgeschickt. Vielleicht hatte er auch ganz andere Gründe. Das können die Zuschauer, die das Interview Mohrings im Fernsehen sehen, schwer einschätzen.
Wenn sie aber merken, dass Mohring Feindbilder und gut klingende Floskeln einsetzt, merken sie, dass ihm eine plausible Erklärung fehlt. Also flüchtet er sich in die gleichen Sprachmittel, mit denen Ihnen auch Kemmerich etwas unterschieben will. Diese zwei einfachen Techniken reichen Wählern, um zwei der entscheidenden Politiker an diesem Tag zu verstehen. Und es wird noch besser.
Björn Höcke (AfD)
Der Mann, der an diesem 5. Februar am meisten erklären muss, ist Björn Höcke. Der Thüringer AfD-Vorsitzende hat mit seiner Fraktion einen eigenen Kandidaten ins Rennen um das Amt des Ministerpräsidenten geschickt – Christoph Kindervater, den parteilosen ehrenamtlichen Bürgermeister des 350-Einwohner-Dorfes Sundhausen, rund 25 Kilometer nordwestlich von Erfurt. Es ist, als hätte Jogi Löw einen Kreisklasse-Spieler für die Nationalelf nominiert. Kindervater ist völlig unqualifiziert, sitzt nicht einmal im Landtag, war nie landespolitisch in Erscheinung getreten. Ihn aufzustellen war Zeitverschwendung. Den Thüringer Wählern brachte es nichts.
Diese Zeitverschwendung wird im dritten Wahlgang offensichtlich. Da wählt nicht einmal die AfD ihren eigenen Kandidaten. Kindervater bekommt 0 Stimmen. Die AfD ignoriert ihn, um mit Kemmerich einem Mann ins Amt zu helfen, der ebenfalls nicht regieren kann. Das macht noch weniger Sinn als die Nominierung Kindervaters. Die AfD schließt sich dem Vorschlag von CDU und FDP an – zwei Parteien, die die AfD bei jeder Gelegenheit als korrupte und böse „Altparteien“ ablehnt. Warum soll deren Kandidat auf einmal besser sein als ihr eigener? Wenn die angeblichen „Blockparteien“, auf die die AfD so gerne schimpft, sowieso alle gleich sind, welchen Unterschied macht es dann, ob der Ministerpräsident von der FDP oder der Linken kommt? Die AfD müsste sie alle ablehnen.
Stattdessen schließt sie sich im Thüringer Landtag dem an, wogegen sie angeblich kämpft. Was Höcke und seine Fraktionskollegen da machen, ist mindestens widersprüchlich. In aller Ehrlichkeit ist es eine Schmierenkomödie. Während Mohring und Kemmerich es geschehen lassen, dass Thüringen in eine Sackgasse fährt, hat Höcke das Land mit voller Absicht hineingeschoben. Er hat eine Krise geschaffen, wo keine sein musste. Er hat seine Wähler verraten.
Als Höcke an diesem 5. Februar vor die Fernsehkameras tritt, muss er seine Schmierenkomödie als Heldenepos darstellen. Das versucht er, indem er sagt:
„Wir hatten ein vorrangiges Wahlziel: Wir wollten Rot-Rot-Grün beenden. Wir wollten Bodo Ramelow in den unverdienten politischen Ruhestand schicken. Unter Bodo Ramelow ist Thüringen in einen Linksstaat deformiert worden. Dieser Prozess ist heute gestoppt worden. Das ist gut für Thüringen.“
Schon jetzt merken wir: Höcke baut ein Feindbild auf – Bodo Ramelow, der Thüringen angeblich in einen Linksstaat deformiert hat. Dieser Prozess sei gestoppt worden und das sei gut für Thüringen. Das klingt gut. Aber stimmt es? Kemmerich kann nicht regieren, sein Ende ist nur eine Frage der Zeit. Das ist schon jetzt klar. Danach wird Thüringen entweder neu wählen oder der Landtag wählt neu – in beiden Fällen dürfte das Ergebnis wieder ein Ministerpräsident Ramelow sein. Sieht man von den offensichtlichen logischen Fehlern in Höckes Argumentation ab (Wenn er alle Parteien außer der AfD ablehnt, warum soll es ein Sieg sein, wenn die FDP statt der Linken regiert?), ist sie auch inhaltlich falsch. Das Ziel, das er erreicht haben will, liegt in weiter Ferne. Das versucht er mit den gleichen Sprachmitteln zu verstecken, wie Kemmerich und Mohring ihre eigenen Fehler. Wer die Sprachmittel erkennt, weiß, dass er Höckes Aussage überprüfen muss.
Diese Sprachmittel findet man überall, wo Politiker lügen. Selbst bei der Linken. Diese Partei könnte an diesem Tag zwar ganz ehrlich mit dem Handeln der anderen Parteien für sich werben. Aber sie tut es nicht. Auch können Wähler mit den gleichen zwei Sprachmitteln erkennen, wann die Partei aus einem Thema mehr machen will, als es ist.
Die Linke
Auch die Linke steht an diesem 5. Februar vor einem Problem. Kemmerich hat zwar ein Tabu gebrochen. Er ist der erste deutsche Ministerpräsident seit der Weimarer Republik, der mit der Unterstützung Rechtsextremer gewählt wurde. Für eine linke Partei ist das ein Marketingtraum. Sie kann sagen: „Rechte und Konservative stecken alle unter einer Decke. Wer keine AfD will, muss uns wählen.“ Diese Steilvorlage haben Union und FDP der Linken geliefert. Sie haben ihr diese Vorlage aber nur in Thüringen gegeben. In ganz Deutschland gilt das nicht. Auf Bundesebene brach nach der Wahl Kemmerichs eine Welle der Entrüstung los, auch unter Politikern von FDP und CDU . Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner eilte noch am Abend nach Erfurt, um Kemmerich den schnellstmöglichen Rücktritt mit Nachdruck zu empfehlen, auf Twitter und in den Medien äußerten sich praktisch alle Konservativen und Liberalen kritisch. Das Erfurter Fiasko zeigte, wie wenig Politiker von CDU und FDP im Rest Deutschlands mit der AfD zu tun haben wollen.
Dennoch veröffentlicht die Linke auf ihrem Instagram-Profil ein Video, das so tut, als wären Konservative und Liberale überglücklich, endlich mit der AfD zusammenarbeiten zu können. Hinterlegt mit dramatischer Musik zeigt der Film, wie Höcke Kemmerich zur Wahl gratuliert. Danach die Einblendung:
„Thomas Kemmerich (FDP) lässt sich von Höcke-AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen. Konservative wie Liberale feiern und bejubeln diesen Tabubruch.“
Zum scheinbaren Beleg ihrer Aussage zeigt die Linke Tweets und Aussagen von CDU- und FDP-Politikern, die Kemmerich zur Wahl gratulieren. Thomas Kubicki (FDP), Jan Redmann (CDU), Frank Bommert (CDU) und Hans-Georg Maaßen (CDU) beglückwünschen Kemmerich zum Wahlsieg oder freuen sich über das Ende von Rot-Rot-Grün. Zum Abschluss des Videos blendet die Linke das Fazit ein, das sie an den Zuschauer bringen will:
„Seit dem 5. Februar ist klar, auf wessen Seite Union und FDP im Zweifel stehen.“
Zu diesem Zeitpunkt, werden Sie hoffentlich bereits vorsichtig. Die Linke versucht, ein Feindbild aufzubauen. Wir wissen: Das ist eine beliebte Technik, mit der Politiker lügen. Sie wirft immer die Frage auf: Ist die Welt wirklich so schwarz und weiß? Das ist der erste Schritt beim Erkennen von politischen Lügen. Der zweite ist es, die Aussagen noch einmal genauer anzusehen.
Union und FDP stehen also auf Seiten der AfD, behauptet die Linke. Doch wessen Zitate führt sie dafür als Belege an? Jan Redmann und Frank Bommert? Wissen Sie überhaupt, wer das ist? Nein? Beide sind Mitglieder des Brandenburger Landtags, Redmann immerhin Fraktionsvorsitzender. Für die gesamte CDU sprechen beide aber genauso wenig wie Maaßen. Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist seit seiner Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand praktisch ohne jeden Einfluss in der Partei.
Würde die Linke eine Aussage über die gesamte CDU treffen wollen, sie sollte wenigstens ein Mitglied des Bundesvorstandes zitieren können, idealerweise Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer oder Kanzlerin Angela Merkel. Doch beide ignoriert die Linke. Warum nur? Das ist der dritte Stolperstein. Wer das Video der Linken einordnen will, muss an diesem Abend nur einen der beiden Namen googeln. Er wird schnell einen Eintrag finden, in dem Angela Merkel von einem „unverzeihlichen Vorgang“ spricht, der sofort rückgängig gemacht werden müsse.[2] Oder einen Beitrag, indem Kramp-Karrenbauer sagt, sie fände „es wäre richtig, wenn dieser Ministerpräsident zurücktreten würde“, weil er ohne die AfD nicht regieren könne.
Die Linke lügt. Für die Menschen, die das Video sehen, ist das alleine anhand der Fakten aber schwer zu erkennen. Kaum einer von ihnen folgt vielen CDU- und FDP-Politikern bei Twitter und weiß, wie sich die überwältigende Mehrheit von ihnen zur Wahl Kemmerichs geäußert hat. Deswegen besteht die Gefahr, dass sie die Botschaft der Linken als Fakt hinnehmen und zukünftige Wahlentscheidungen auf der Grundlage einer Lüge treffen.
Kennen wir aber die Techniken, mit denen Politiker lügen, mahnt uns alleine die Sprache des Videos zur Vorsicht. Wer erkennt, dass die Linke ein Feindbild schaffen will, weiß, dass er das Video nicht blind als Wahrheit einstufen sollte. Dieser Impuls hilft ihm, kurz innezuhalten. Wer sind die Politiker, die da zitiert werden? Können Sie für die Partei sprechen? Was sagen Merkel und AKK? Die Wähler erkennen, dass sie das große Bild anschauen und weitere Aussagen überprüfen müssen. In weniger als zwei Minuten durchschauen Wähler Lügen, die sie sonst als wahr hinnehmen würden – nur weil sie die Sprache der Politik verstehen. Dieses Verständnis löst Feindbilder auf. Es zeigt, dass die Welt nicht schwarz oder weiß ist. sondern nicht grau. Und es schafft Verständnis. Diese Kraft kommt daher, dass Politiker diese Techniken anwenden müssen, wenn sie lügen. Sie können nicht anders.
Es gibt kein Trainingslager
Bei meinen Vorträgen stellen mir Menschen oft die gleiche Frage: „Wenn die Techniken, mit denen Politiker lügen, so eindeutig festlegbar sind – liegt das daran, dass sie die Techniken in einem Handbuch oder Trainingslager lernen?“ Ich sage dann: „Nein, und genau das ist die Stärke dieser Analyse.“ Würden Politiker diese Techniken erlernen, wären ihnen die Wähler immer einen Schritt hinterher. Sobald Wähler eine Technik erkennen können, würden Politiker eine andere anwenden. Dadurch könnten Sie behaupten, was sie wollen.
So ist es aber nicht. Es gibt kein Handbuch und kein Trainingslager. Politiker verwenden diese Techniken, weil sie nicht anders können. Sie sind auch nur Menschen, denen ab und an gute Erklärungen fehlen und die sich deswegen rausreden müssen. So geht es uns allen von Zeit zu Zeit. Auch wir verwenden dann erkennbare Muster:
- Haben wir keine Lust auf eine Einladung zum Abendessen, reden wir uns mit Kopfschmerzen, viel Arbeit oder kranken Kindern raus.
- Haben wir auf der Arbeit einen Fehler gemacht, sagen wir „Das wusste ich nicht.“ Oder: „Das hat mir keiner gesagt.“
- Wollen wir uns vor dem Saubermachen drücken, schieben wir Kopfschmerzen vor oder sagen: „Ich habe keine Zeit.“
Alle diese Fälle haben zwei Sachen gemeinsam:
- Viel mehr Möglichkeiten für Ausreden haben wir nicht. Niemand sagt: „Ich kann heute Abend nicht kommen, mein Auto wurde von Aliens entführt.“ Oder: „Schatz, ich kann nicht Staub saugen, Gott hat es mir verboten.“ Diese Lügen wären zu unglaubwürdig. Wir müssen uns instinktiv an eine Sprachstruktur halten, die unsere Lügen gleichzeitig halbwegs glaubwürdig verkauft und dennoch erkennbar macht.
- Diese Dinge könnten alle wahr sein. Täglich sagen Menschen Treffen ab, weil sie tatsächlich Kopfschmerzen haben. Eine Absage dieser Art bedeutet also nicht zwangsläufig, dass jemand lügt. Nur die Sprache allein überführt Lügner nicht. Aber sie kann misstrauisch machen. Wer regelmäßig unliebsame Veranstaltungen wegen Kopfschmerzen absagt, ist verdächtig. Sprachmittel ersetzen zwar keine Faktenanalyse, sie zeigen aber, wo sie nötig ist.
Beide Punkte treffen auch für Politiker zu. Wenn sich Kemmerich bei Slomka rechtfertigen will, kann er nur staatstragend daherreden und so tun, also wäre ohne seine Wahl alles viel schlimmer gekommen. Dafür braucht er kein Handbuch und kein Trainingslager, es diktiert der gesunde Menschenverstand. Was soll Kemmerich sonst sagen? „Ich muss regieren, denn ich bin Sternzeichen Fisch und Thüringen braucht jetzt einen Fisch als Ministerpräsident. Ramelow ist Wassermann, das würde nie funktionieren!“ Damit hätte er sich in zwei Sätzen lächerlich gemacht. Wir würden uns in dieser Situation alle instinktiv genauso verhalten. Das macht die Sprachtechniken erkennbar und übertragbar. Indem Wähler diese Argumentationsweisen lernen, können sie Politiker besser verstehen und einschätzen.
Auch der zweite Punkt trifft auf Politiker zu. Wenn siegut klingende Floskeln oder Feindbilder verwenden, können diese auch zutreffend und wahr sein. Als Winston Churchill in seiner ersten Rede als britischer Premierminister Hitler-Deutschland als „monströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im finsteren Katalog der Verbrechen der Menschheit“, die „um jeden Preis“ besiegt werden müsse, bezeichnete, benutzte er ein Feindbild und hatte Recht. Diese Situationen sind aber selten. In den meisten Fällen, in denen heute Menschen mit Hitler verglichen werden, ist das eine Lüge.[4]
Außerdem gilt auch: Die Häufigkeit, mit der Politiker diese Sprachmittel einsetzen, verrät viel über ihre Glaubwürdigkeit. Wie ein Freund, der höchstens einmal pro Jahr einen Termin wegen Kopfschmerzen absagt, glaubwürdiger ist als der, der bei jedem Umzug und Treffen und bei jeder Bitte angeblich kränkelt, ist auch ein Politiker, der nur bei einem Thema ein Feindbild bemüht, glaubwürdiger als der, der das bei jedem Thema tut. Sprachmittel werden die Faktenanalyse auch bei Politikern nie ersetzen. Aber sie zeigen, wo Wähler Aussagen überprüfen sollten – und wer sie ohnehin belügt, weil er nur in Feindbildern spricht.
Fazit
- Wenn Politiker lügen, verwenden sie erkennbare Sprachmuster.
- Wähler, die diese Sprachmuster lernen, können politische Lügen erkennen, ohne alle Fakten wissen zu müssen.
- Alle Politiker verwenden diese Sprachmuster ab und an. Die Häufigkeit, mit der sie das tun, verrät viel darüber, wie vertrauenswürdig diese Politiker sind.
[1] In Thüringern braucht ein Kandidat in den ersten beiden Wahlgängen im Landtag mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen – also die absolute Mehrheit –, um zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Ab dem dritten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit – also die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen. Deswegen war Kemmerich im dritten Wahlgang mit 45 von 90 Stimmen gewählt worden. Die absolute Mehrheit der Abgeordneten hatte er damit nicht hinter sich, die einfache aber schon. Und die reichte im dritten Wahlgang.
[2] Ein „unverzeihlicher Vorgang“, https://www.tagesschau.de/inland/thueringen-kemmerich-merkel-101.html.
[3] Kramp-Karrenbauer droht Thüringer CDU, https://www.tagesschau.de/inland/kemmerich-proteste-109.html.
[4] Wir werden später noch Kriterien entwerfen, mit denen wir Feindbilder besser einordnen können